Das Daseyn eines selbständigen deutschen Juristenrechts ist ein geschichtliches Factum, welches als solches seine volle An- erkennung verlangt. In der That hat man es auch seit sei- ner Entstehung, welche mit der Aufnahme des römischen Rechts zusammenfällt, zu allen Zeiten als einen Theil des positiven Rechts gelten lassen und zur Anwendung gebracht, wenn man auch nicht immer dieselben Ausdrücke dafür gebrauchte, und über den Grund und Umfang seiner Geltung, so wie über die Art seiner Erkenntniß in mannichfachen Schwankungen und Irrthümern begriffen war. Anfangs nahm man mit dem rö- mischen Recht die von den italienischen Juristen ausgebildete Lehre von der communis Doctorum opinio auf, welche von dem unter den gegebenen Verhältnissen ganz richtigen Grund- satze ausging, daß die gemeinsame Ueberzeugung des Juristen- standes oder doch die überwiegend vorherrschende Meinung sei- ner bedeutendsten Vertreter über die Geltung eines im römi- schen Recht nicht klar ausgesprochenen Rechtssatzes entscheide. Die Schwäche dieser Theorie lag, abgesehen von dem Werth der ganzen Rechtsbildung, mit welcher die bezeichnete Anschau- ungsweise unmittelbar zusammen hing, hauptsächlich in der Art, wie man sie zur Anwendung brachte. Denn statt eine
Zehntes Kapitel. Methode des Juriſtenrechts.
Das Daſeyn eines ſelbſtaͤndigen deutſchen Juriſtenrechts iſt ein geſchichtliches Factum, welches als ſolches ſeine volle An- erkennung verlangt. In der That hat man es auch ſeit ſei- ner Entſtehung, welche mit der Aufnahme des roͤmiſchen Rechts zuſammenfaͤllt, zu allen Zeiten als einen Theil des poſitiven Rechts gelten laſſen und zur Anwendung gebracht, wenn man auch nicht immer dieſelben Ausdruͤcke dafuͤr gebrauchte, und uͤber den Grund und Umfang ſeiner Geltung, ſo wie uͤber die Art ſeiner Erkenntniß in mannichfachen Schwankungen und Irrthuͤmern begriffen war. Anfangs nahm man mit dem roͤ- miſchen Recht die von den italieniſchen Juriſten ausgebildete Lehre von der communis Doctorum opinio auf, welche von dem unter den gegebenen Verhaͤltniſſen ganz richtigen Grund- ſatze ausging, daß die gemeinſame Ueberzeugung des Juriſten- ſtandes oder doch die uͤberwiegend vorherrſchende Meinung ſei- ner bedeutendſten Vertreter uͤber die Geltung eines im roͤmi- ſchen Recht nicht klar ausgeſprochenen Rechtsſatzes entſcheide. Die Schwaͤche dieſer Theorie lag, abgeſehen von dem Werth der ganzen Rechtsbildung, mit welcher die bezeichnete Anſchau- ungsweiſe unmittelbar zuſammen hing, hauptſaͤchlich in der Art, wie man ſie zur Anwendung brachte. Denn ſtatt eine
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0311"n="[299]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Zehntes Kapitel.</hi><lb/><hirendition="#g">Methode des Juriſtenrechts</hi>.</head><lb/><p><hirendition="#in">D</hi>as Daſeyn eines ſelbſtaͤndigen deutſchen Juriſtenrechts iſt<lb/>
ein geſchichtliches Factum, welches als ſolches ſeine volle An-<lb/>
erkennung verlangt. In der That hat man es auch ſeit ſei-<lb/>
ner Entſtehung, welche mit der Aufnahme des roͤmiſchen Rechts<lb/>
zuſammenfaͤllt, zu allen Zeiten als einen Theil des poſitiven<lb/>
Rechts gelten laſſen und zur Anwendung gebracht, wenn man<lb/>
auch nicht immer dieſelben Ausdruͤcke dafuͤr gebrauchte, und<lb/>
uͤber den Grund und Umfang ſeiner Geltung, ſo wie uͤber die<lb/>
Art ſeiner Erkenntniß in mannichfachen Schwankungen und<lb/>
Irrthuͤmern begriffen war. Anfangs nahm man mit dem roͤ-<lb/>
miſchen Recht die von den italieniſchen Juriſten ausgebildete<lb/>
Lehre von der <hirendition="#aq">communis Doctorum opinio</hi> auf, welche von<lb/>
dem unter den gegebenen Verhaͤltniſſen ganz richtigen Grund-<lb/>ſatze ausging, daß die gemeinſame Ueberzeugung des Juriſten-<lb/>ſtandes oder doch die uͤberwiegend vorherrſchende Meinung ſei-<lb/>
ner bedeutendſten Vertreter uͤber die Geltung eines im roͤmi-<lb/>ſchen Recht nicht klar ausgeſprochenen Rechtsſatzes entſcheide.<lb/>
Die Schwaͤche dieſer Theorie lag, abgeſehen von dem Werth<lb/>
der ganzen Rechtsbildung, mit welcher die bezeichnete Anſchau-<lb/>
ungsweiſe unmittelbar zuſammen hing, hauptſaͤchlich in der<lb/>
Art, wie man ſie zur Anwendung brachte. Denn ſtatt eine<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[299]/0311]
Zehntes Kapitel.
Methode des Juriſtenrechts.
Das Daſeyn eines ſelbſtaͤndigen deutſchen Juriſtenrechts iſt
ein geſchichtliches Factum, welches als ſolches ſeine volle An-
erkennung verlangt. In der That hat man es auch ſeit ſei-
ner Entſtehung, welche mit der Aufnahme des roͤmiſchen Rechts
zuſammenfaͤllt, zu allen Zeiten als einen Theil des poſitiven
Rechts gelten laſſen und zur Anwendung gebracht, wenn man
auch nicht immer dieſelben Ausdruͤcke dafuͤr gebrauchte, und
uͤber den Grund und Umfang ſeiner Geltung, ſo wie uͤber die
Art ſeiner Erkenntniß in mannichfachen Schwankungen und
Irrthuͤmern begriffen war. Anfangs nahm man mit dem roͤ-
miſchen Recht die von den italieniſchen Juriſten ausgebildete
Lehre von der communis Doctorum opinio auf, welche von
dem unter den gegebenen Verhaͤltniſſen ganz richtigen Grund-
ſatze ausging, daß die gemeinſame Ueberzeugung des Juriſten-
ſtandes oder doch die uͤberwiegend vorherrſchende Meinung ſei-
ner bedeutendſten Vertreter uͤber die Geltung eines im roͤmi-
ſchen Recht nicht klar ausgeſprochenen Rechtsſatzes entſcheide.
Die Schwaͤche dieſer Theorie lag, abgeſehen von dem Werth
der ganzen Rechtsbildung, mit welcher die bezeichnete Anſchau-
ungsweiſe unmittelbar zuſammen hing, hauptſaͤchlich in der
Art, wie man ſie zur Anwendung brachte. Denn ſtatt eine
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Beseler, Georg: Volksrecht und Juristenrecht. Leipzig, 1843, S. [299]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_volksrecht_1843/311>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.