Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Uebertretung kann mit einer Strafe belegt werden, die nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.
Der Entwurf von 1847. hatte diese Vorschrift in einer Fassung, welche derselben einen etwas anderen Sinn gab. §. 7. nämlich lautete:
"Keine Handlung darf mit einer Strafe belegt werden, die nicht ihrer Art und ihrem Maaße nach gesetzlich dafür bestimmt ist."
Mit diesen Worten war der Rechtsgrundsatz ausgesprochen: nulla poena sine lege, aber es war darin zugleich die Ansicht gewahrt, daß eine Handlung nicht erst durch die gesetzliche Strafe nothwendig zum Verbrechen gestempelt werde; daß nicht der Begriff, sondern nur die rechtliche Folge des Verbrechens von dem Ausspruch des Gesetzes ab- hänge. Nachdem aber §. 1. in das Gesetzbuch aufgenommen worden, konnte eine so allgemeine Fassung nicht wohl beibehalten werden. Ob das kriminelle Unrecht an und für sich unabhängig von einer Straf- satzung ist, war hier nicht zu entscheiden; aber die bestimmten Formen desselben, welche das Gesetzbuch als Verbrechen, Vergehen und Ueber- tretungen bezeichnet und mit denen die Strafgewalt des Staates es allein zu thun hat, sollen durch die ausdrückliche Strafandrohung des Gesetzes bedingt sein. Nur in diesem Sinne stellt also der §. 2 den Satz auf: nullum crimen sine lege.i)
Es liegt aber in der zuletzt gewählten Fassung des Paragraphen außer jenem Princip, welches schon in der Verfassungsurkunde Art. 8. gewahrt ist, noch ein anderes von nicht geringerer Bedeutung. Es soll keine Strafe auferlegt werden, die nicht gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. In diesen Worten ist das Verbot der rückwirkenden Kraft der Strafgesetze ausgespro- chen, wovon nur dann zu Gunsten des Angeschuldigten eine Ausnahme eintritt, wenn das neuere Gesetz milder ist als das ältere. m)
Es genügt jedoch nicht, bei der Betrachtung des §. 2. nur die beiden großen darin aufgestellten Rechtsgrundsätze im Allgemeinen her- vorzuheben; der zuerst bezeichnete bedarf vielmehr noch einer näheren Erwägung.
i) Warum §. 2. in der jetzigen Fassung nicht zu §. 1. passen sollte, wie Abegg (der Entwurf des Strafgesetzbuchs. Halle 1851. S. 12) behauptet, läßt sich nicht wohl einsehen.
m)Einführungsgesetz vom 14. April 1851. Art. IV. -- Sehr feine kasui- stische Erörterungen über diese Frage finden sich bei Chauveau et Helie Fau- stin, Theorie du Code penal. I. chap. II. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, da Fragen dieser Art mit Sicherheit nur an der Hand der sich unter der Herr- schaft des Strafgesetzbuchs bildenden Praxis gelöst werden können.
5 *
§. 2. Nulla poena sine lege.
§. 2.
Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Uebertretung kann mit einer Strafe belegt werden, die nicht geſetzlich beſtimmt war, bevor die Handlung begangen wurde.
Der Entwurf von 1847. hatte dieſe Vorſchrift in einer Faſſung, welche derſelben einen etwas anderen Sinn gab. §. 7. nämlich lautete:
„Keine Handlung darf mit einer Strafe belegt werden, die nicht ihrer Art und ihrem Maaße nach geſetzlich dafür beſtimmt iſt.“
Mit dieſen Worten war der Rechtsgrundſatz ausgeſprochen: nulla poena sine lege, aber es war darin zugleich die Anſicht gewahrt, daß eine Handlung nicht erſt durch die geſetzliche Strafe nothwendig zum Verbrechen geſtempelt werde; daß nicht der Begriff, ſondern nur die rechtliche Folge des Verbrechens von dem Ausſpruch des Geſetzes ab- hänge. Nachdem aber §. 1. in das Geſetzbuch aufgenommen worden, konnte eine ſo allgemeine Faſſung nicht wohl beibehalten werden. Ob das kriminelle Unrecht an und für ſich unabhängig von einer Straf- ſatzung iſt, war hier nicht zu entſcheiden; aber die beſtimmten Formen deſſelben, welche das Geſetzbuch als Verbrechen, Vergehen und Ueber- tretungen bezeichnet und mit denen die Strafgewalt des Staates es allein zu thun hat, ſollen durch die ausdrückliche Strafandrohung des Geſetzes bedingt ſein. Nur in dieſem Sinne ſtellt alſo der §. 2 den Satz auf: nullum crimen sine lege.i)
Es liegt aber in der zuletzt gewählten Faſſung des Paragraphen außer jenem Princip, welches ſchon in der Verfaſſungsurkunde Art. 8. gewahrt iſt, noch ein anderes von nicht geringerer Bedeutung. Es ſoll keine Strafe auferlegt werden, die nicht geſetzlich beſtimmt war, bevor die Handlung begangen wurde. In dieſen Worten iſt das Verbot der rückwirkenden Kraft der Strafgeſetze ausgeſpro- chen, wovon nur dann zu Gunſten des Angeſchuldigten eine Ausnahme eintritt, wenn das neuere Geſetz milder iſt als das ältere. m)
Es genügt jedoch nicht, bei der Betrachtung des §. 2. nur die beiden großen darin aufgeſtellten Rechtsgrundſätze im Allgemeinen her- vorzuheben; der zuerſt bezeichnete bedarf vielmehr noch einer näheren Erwägung.
i) Warum §. 2. in der jetzigen Faſſung nicht zu §. 1. paſſen ſollte, wie Abegg (der Entwurf des Strafgeſetzbuchs. Halle 1851. S. 12) behauptet, läßt ſich nicht wohl einſehen.
m)Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. IV. — Sehr feine kaſui- ſtiſche Erörterungen über dieſe Frage finden ſich bei Chauveau et Hélie Fau- stin, Théorie du Code pénal. I. chap. II. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, da Fragen dieſer Art mit Sicherheit nur an der Hand der ſich unter der Herr- ſchaft des Strafgeſetzbuchs bildenden Praxis gelöſt werden können.
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§. 2. Nulla poena sine lege.
§. 2.
Kein Verbrechen, kein Vergehen und keine Uebertretung kann mit einer
Strafe belegt werden, die nicht geſetzlich beſtimmt war, bevor die Handlung
begangen wurde.
Der Entwurf von 1847. hatte dieſe Vorſchrift in einer Faſſung,
welche derſelben einen etwas anderen Sinn gab. §. 7. nämlich lautete:
„Keine Handlung darf mit einer Strafe belegt werden, die nicht
ihrer Art und ihrem Maaße nach geſetzlich dafür beſtimmt iſt.“
Mit dieſen Worten war der Rechtsgrundſatz ausgeſprochen: nulla
poena sine lege, aber es war darin zugleich die Anſicht gewahrt, daß
eine Handlung nicht erſt durch die geſetzliche Strafe nothwendig zum
Verbrechen geſtempelt werde; daß nicht der Begriff, ſondern nur die
rechtliche Folge des Verbrechens von dem Ausſpruch des Geſetzes ab-
hänge. Nachdem aber §. 1. in das Geſetzbuch aufgenommen worden,
konnte eine ſo allgemeine Faſſung nicht wohl beibehalten werden. Ob
das kriminelle Unrecht an und für ſich unabhängig von einer Straf-
ſatzung iſt, war hier nicht zu entſcheiden; aber die beſtimmten Formen
deſſelben, welche das Geſetzbuch als Verbrechen, Vergehen und Ueber-
tretungen bezeichnet und mit denen die Strafgewalt des Staates es
allein zu thun hat, ſollen durch die ausdrückliche Strafandrohung des
Geſetzes bedingt ſein. Nur in dieſem Sinne ſtellt alſo der §. 2 den
Satz auf: nullum crimen sine lege. i)
Es liegt aber in der zuletzt gewählten Faſſung des Paragraphen
außer jenem Princip, welches ſchon in der Verfaſſungsurkunde Art. 8.
gewahrt iſt, noch ein anderes von nicht geringerer Bedeutung. Es ſoll
keine Strafe auferlegt werden, die nicht geſetzlich beſtimmt war, bevor
die Handlung begangen wurde. In dieſen Worten iſt das
Verbot der rückwirkenden Kraft der Strafgeſetze ausgeſpro-
chen, wovon nur dann zu Gunſten des Angeſchuldigten eine
Ausnahme eintritt, wenn das neuere Geſetz milder iſt als das ältere.
m)
Es genügt jedoch nicht, bei der Betrachtung des §. 2. nur die
beiden großen darin aufgeſtellten Rechtsgrundſätze im Allgemeinen her-
vorzuheben; der zuerſt bezeichnete bedarf vielmehr noch einer näheren
Erwägung.
i) Warum §. 2. in der jetzigen Faſſung nicht zu §. 1. paſſen ſollte, wie
Abegg (der Entwurf des Strafgeſetzbuchs. Halle 1851. S. 12) behauptet, läßt ſich
nicht wohl einſehen.
m) Einführungsgeſetz vom 14. April 1851. Art. IV. — Sehr feine kaſui-
ſtiſche Erörterungen über dieſe Frage finden ſich bei Chauveau et Hélie Fau-
stin, Théorie du Code pénal. I. chap. II. Ich gehe hier nicht näher darauf
ein, da Fragen dieſer Art mit Sicherheit nur an der Hand der ſich unter der Herr-
ſchaft des Strafgeſetzbuchs bildenden Praxis gelöſt werden können.
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Beseler, Georg: Kommentar über das Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten. Leipzig, 1851, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/beseler_kommentar_1851/77>, abgerufen am 22.02.2025.
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