Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Gletscher.

Reiche mir, Führer, den Stab, und waffne die Sohlen mit Zacken,
Denn erklimmen muß ich dort jenen prächtigen Eisberg!
Leite mich weiter hinauf und halte mich, daß ich nicht sinke.
Jetzt, jetzt bin ich ihm nahe, dem Gipfel! Hier steh' ich und athme
Reinere Luft, und starre hinab in die offenen Klüfte,
Blicke staunend umher auf die Reihen der Eispyramiden,
Sehe dort fern am Felsen hinauf die einsamen Hütten
Glücklicher Sennen, und Ziegen, die fetten Weiden verfolgend.
Wie es unter mir donnert! Mir ist, als bebte der Eisberg,
Drohte zu bersten und mich zu begraben unter die Trümmer!
Ha! wie dort der gewaltige Strom aus der Pforte des Eisthurms,
Gleich als würd' er geschleudert, in schwärzlichen Wogen hervorschäumt
Und sich, befruchtend, ergießt in den Schooß des blühenden Thales!
Stäudlin.

Was die Lauine im wilden Sturme entfesselter Leidenschaft
während wenigen Augenblicken vollbringt, das führt der Gletscher
im langsam bedächtigen Vorschritt aus. Beide haben die gleiche
Aufgabe: das Hochgebirge von der drohenden Schnee-Ueberlastung
zu befreien und einer allgemach entstehenden Total-Erkältung des
Alpengebäudes und seines Anlandes vorzubeugen; beide sind aus¬
gleichende Faktoren, vermittelnde Ableitungskanäle, beide streben
einem Ziele zu, aber auf verschiedenen Wegen. Die Lauine ist
eine jugendliche, unbesonnene Erscheinung, die allen Boden unter
den Füßen verlierend, mit einem kühnen Satze dem Opfertode sich in

Der Gletſcher.

Reiche mir, Führer, den Stab, und waffne die Sohlen mit Zacken,
Denn erklimmen muß ich dort jenen prächtigen Eisberg!
Leite mich weiter hinauf und halte mich, daß ich nicht ſinke.
Jetzt, jetzt bin ich ihm nahe, dem Gipfel! Hier ſteh' ich und athme
Reinere Luft, und ſtarre hinab in die offenen Klüfte,
Blicke ſtaunend umher auf die Reihen der Eispyramiden,
Sehe dort fern am Felſen hinauf die einſamen Hütten
Glücklicher Sennen, und Ziegen, die fetten Weiden verfolgend.
Wie es unter mir donnert! Mir iſt, als bebte der Eisberg,
Drohte zu berſten und mich zu begraben unter die Trümmer!
Ha! wie dort der gewaltige Strom aus der Pforte des Eisthurms,
Gleich als würd' er geſchleudert, in ſchwärzlichen Wogen hervorſchäumt
Und ſich, befruchtend, ergießt in den Schooß des blühenden Thales!
Stäudlin.

Was die Lauine im wilden Sturme entfeſſelter Leidenſchaft
während wenigen Augenblicken vollbringt, das führt der Gletſcher
im langſam bedächtigen Vorſchritt aus. Beide haben die gleiche
Aufgabe: das Hochgebirge von der drohenden Schnee-Ueberlaſtung
zu befreien und einer allgemach entſtehenden Total-Erkältung des
Alpengebäudes und ſeines Anlandes vorzubeugen; beide ſind aus¬
gleichende Faktoren, vermittelnde Ableitungskanäle, beide ſtreben
einem Ziele zu, aber auf verſchiedenen Wegen. Die Lauine iſt
eine jugendliche, unbeſonnene Erſcheinung, die allen Boden unter
den Füßen verlierend, mit einem kühnen Satze dem Opfertode ſich in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <pb facs="#f0245"/>
      <div n="1">
        <head><hi rendition="#fr #g">Der Glet&#x017F;cher</hi>.<lb/></head>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <cit>
          <quote>
            <lg type="poem">
              <l>Reiche mir, Führer, den Stab, und waffne die Sohlen mit Zacken,<lb/></l>
              <l>Denn erklimmen muß ich dort jenen prächtigen Eisberg!<lb/></l>
              <l>Leite mich weiter hinauf und halte mich, daß ich nicht &#x017F;inke.<lb/></l>
              <l>Jetzt, jetzt bin ich ihm nahe, dem Gipfel! Hier &#x017F;teh' ich und athme<lb/></l>
              <l>Reinere Luft, und &#x017F;tarre hinab in die offenen Klüfte,<lb/></l>
              <l>Blicke &#x017F;taunend umher auf die Reihen der Eispyramiden,<lb/></l>
              <l>Sehe dort fern am Fel&#x017F;en hinauf die ein&#x017F;amen Hütten<lb/></l>
              <l>Glücklicher Sennen, und Ziegen, die fetten Weiden verfolgend.<lb/></l>
              <l>Wie es unter mir donnert! Mir i&#x017F;t, als bebte der Eisberg,<lb/></l>
              <l>Drohte zu ber&#x017F;ten und mich zu begraben unter die Trümmer!<lb/></l>
              <l>Ha! wie dort der gewaltige Strom aus der Pforte des Eisthurms,<lb/></l>
              <l>Gleich als würd' er ge&#x017F;chleudert, in &#x017F;chwärzlichen Wogen hervor&#x017F;chäumt<lb/></l>
              <l>Und &#x017F;ich, befruchtend, ergießt in den Schooß des blühenden Thales!<lb/></l>
            </lg>
          </quote>
          <bibl rendition="#right"><hi rendition="#g">Stäudlin</hi>.<lb/></bibl>
        </cit>
        <p>Was die Lauine im wilden Sturme entfe&#x017F;&#x017F;elter Leiden&#x017F;chaft<lb/>
während wenigen Augenblicken vollbringt, das führt der Glet&#x017F;cher<lb/>
im lang&#x017F;am bedächtigen Vor&#x017F;chritt aus. Beide haben die gleiche<lb/>
Aufgabe: das Hochgebirge von der drohenden Schnee-Ueberla&#x017F;tung<lb/>
zu befreien und einer allgemach ent&#x017F;tehenden Total-Erkältung des<lb/>
Alpengebäudes und &#x017F;eines Anlandes vorzubeugen; beide &#x017F;ind aus¬<lb/>
gleichende Faktoren, vermittelnde Ableitungskanäle, beide &#x017F;treben<lb/>
einem Ziele zu, aber auf ver&#x017F;chiedenen Wegen. Die Lauine i&#x017F;t<lb/>
eine jugendliche, unbe&#x017F;onnene Er&#x017F;cheinung, die allen Boden unter<lb/>
den Füßen verlierend, mit einem kühnen Satze dem Opfertode &#x017F;ich in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0245] Der Gletſcher. Reiche mir, Führer, den Stab, und waffne die Sohlen mit Zacken, Denn erklimmen muß ich dort jenen prächtigen Eisberg! Leite mich weiter hinauf und halte mich, daß ich nicht ſinke. Jetzt, jetzt bin ich ihm nahe, dem Gipfel! Hier ſteh' ich und athme Reinere Luft, und ſtarre hinab in die offenen Klüfte, Blicke ſtaunend umher auf die Reihen der Eispyramiden, Sehe dort fern am Felſen hinauf die einſamen Hütten Glücklicher Sennen, und Ziegen, die fetten Weiden verfolgend. Wie es unter mir donnert! Mir iſt, als bebte der Eisberg, Drohte zu berſten und mich zu begraben unter die Trümmer! Ha! wie dort der gewaltige Strom aus der Pforte des Eisthurms, Gleich als würd' er geſchleudert, in ſchwärzlichen Wogen hervorſchäumt Und ſich, befruchtend, ergießt in den Schooß des blühenden Thales! Stäudlin. Was die Lauine im wilden Sturme entfeſſelter Leidenſchaft während wenigen Augenblicken vollbringt, das führt der Gletſcher im langſam bedächtigen Vorſchritt aus. Beide haben die gleiche Aufgabe: das Hochgebirge von der drohenden Schnee-Ueberlaſtung zu befreien und einer allgemach entſtehenden Total-Erkältung des Alpengebäudes und ſeines Anlandes vorzubeugen; beide ſind aus¬ gleichende Faktoren, vermittelnde Ableitungskanäle, beide ſtreben einem Ziele zu, aber auf verſchiedenen Wegen. Die Lauine iſt eine jugendliche, unbeſonnene Erſcheinung, die allen Boden unter den Füßen verlierend, mit einem kühnen Satze dem Opfertode ſich in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/245
Zitationshilfe: Berlepsch, Hermann Alexander: Die Alpen in Natur- und Lebensbildern. Leipzig, 1871, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berlepsch_alpen_1861/245>, abgerufen am 21.12.2024.