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Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873.

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Siamesische Baukunst. XXI.
geprägten Typus haben alle siamesischen Geräthe, Bild- und Bau-
werke, von der Haarnadel bis zum thurmhohen Phra-pran64), von
der Betelbüchse bis zum mächtigen Tempelbau. Das geübte Auge
würde ein nie gesehenes siamesiches Ornament unter hunderten er-
kennen. Wie die Gothik auf dem Spitzbogen, so fusst die siame-
sische Baukunst auf einer bestimmten Spitzwinkligkeit; wenn auch
beide Grundformen der in gewissen Winkeln gegeneinander geneigten
Curven und Graden nur in den gipfelden Linien rein auftreten, so
haben sich doch das constructive System und die Ornamentik aus
demselben entwickelt. Das spitzige Dach des schwimmenden Hauses
und der Bambushütte zeigt in seinen Winkeln die elementare Form
der siamesischen Königskrone und Thurmpyramide; dieselbe Spitz-
winkligkeit ist in der freiesten Ausladung der Zierrathen, in den
phantastisch geschwungenen Linien der siamesischen Blatt-Arabeske
versteckt. -- Die wenigen Bauten in Bankok, an welchen italienische
Architecten mitgewirkt haben, bleiben hier selbstredend ausser
Betrachtung.

Die Schönheiten des eigentlichen Tempelbaues kommen meist
nur bei kleineren Gebäuden zur Geltung; in Wat Po stehen deren
reizende. Der Grundriss ist ein längliches Rechteck. Den Kern
bildet eine Cella mit glatten Wänden, auf welchen das vortretende
Giebeldach ruht. Die Eingangsthür liegt in der Mitte der Giebel-
wand, deren spitziges Dreieck mit bunten Arabesken auf Goldgrund
in Glasmosaik ausgefüllt ist. Jede Seitenwand der Cella hat eine
Reihe Fenster mit Rahmen von vergoldetem Stuckornament und
hölzernen Läden mit Gold-Arabesken auf schwarzem Grund. Bei
etwas grösseren Tempeln tritt der Giebel von vier Pfeilern getragen
über die Vorderwand heraus, eine Vorhalle bildend. Die Pfeiler
sind vier oder achteckig; letztere verjüngen sich säulenartig und
tragen vergoldete Blattcapitäle; das mittelste dem Eingang ent-
sprechende Intercolumnium ist breiter. Bei diesen Tempeln sind
die Mittelpfeiler, das verkleinerte Giebelfeld tragend, oft kürzer
als die Eckpfeiler, auf welchen die Dachkanten ruhen; dann ver-
bindet schreinartiges oder zackenförmig herabhangendes durchbro-

64) Phra-pran heissen die pyramidenartigen Thürme, welche bei vielen
Tempeln zu Ehren des Budda errichtet werden. Ueber den Unterschied zwischen
Phra-pran, Phratsedi und Phra-satub giebt Dr. Bastian's Buch über Siam
(S. 80) Belehrung. Danach scheint Phra-satub der siamesische Ausdruck für die
glockenförmigen Monumente zu sein, die auf Ceylon Dagoba heissen.

Siamesische Baukunst. XXI.
geprägten Typus haben alle siamesischen Geräthe, Bild- und Bau-
werke, von der Haarnadel bis zum thurmhohen Phra-praṅ64), von
der Betelbüchse bis zum mächtigen Tempelbau. Das geübte Auge
würde ein nie gesehenes siamesiches Ornament unter hunderten er-
kennen. Wie die Gothik auf dem Spitzbogen, so fusst die siame-
sische Baukunst auf einer bestimmten Spitzwinkligkeit; wenn auch
beide Grundformen der in gewissen Winkeln gegeneinander geneigten
Curven und Graden nur in den gipfelden Linien rein auftreten, so
haben sich doch das constructive System und die Ornamentik aus
demselben entwickelt. Das spitzige Dach des schwimmenden Hauses
und der Bambushütte zeigt in seinen Winkeln die elementare Form
der siamesischen Königskrone und Thurmpyramide; dieselbe Spitz-
winkligkeit ist in der freiesten Ausladung der Zierrathen, in den
phantastisch geschwungenen Linien der siamesischen Blatt-Arabeske
versteckt. — Die wenigen Bauten in Baṅkok, an welchen italienische
Architecten mitgewirkt haben, bleiben hier selbstredend ausser
Betrachtung.

Die Schönheiten des eigentlichen Tempelbaues kommen meist
nur bei kleineren Gebäuden zur Geltung; in Wat Po stehen deren
reizende. Der Grundriss ist ein längliches Rechteck. Den Kern
bildet eine Cella mit glatten Wänden, auf welchen das vortretende
Giebeldach ruht. Die Eingangsthür liegt in der Mitte der Giebel-
wand, deren spitziges Dreieck mit bunten Arabesken auf Goldgrund
in Glasmosaik ausgefüllt ist. Jede Seitenwand der Cella hat eine
Reihe Fenster mit Rahmen von vergoldetem Stuckornament und
hölzernen Läden mit Gold-Arabesken auf schwarzem Grund. Bei
etwas grösseren Tempeln tritt der Giebel von vier Pfeilern getragen
über die Vorderwand heraus, eine Vorhalle bildend. Die Pfeiler
sind vier oder achteckig; letztere verjüngen sich säulenartig und
tragen vergoldete Blattcapitäle; das mittelste dem Eingang ent-
sprechende Intercolumnium ist breiter. Bei diesen Tempeln sind
die Mittelpfeiler, das verkleinerte Giebelfeld tragend, oft kürzer
als die Eckpfeiler, auf welchen die Dachkanten ruhen; dann ver-
bindet schreinartiges oder zackenförmig herabhangendes durchbro-

64) Phra-praṅ heissen die pyramidenartigen Thürme, welche bei vielen
Tempeln zu Ehren des Budda errichtet werden. Ueber den Unterschied zwischen
Phra-praṅ, Phratšedi und Phra-satub giebt Dr. Bastian’s Buch über Siam
(S. 80) Belehrung. Danach scheint Phra-satub der siamesische Ausdruck für die
glockenförmigen Monumente zu sein, die auf Ceylon Dagoba heissen.
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[278/0292] Siamesische Baukunst. XXI. geprägten Typus haben alle siamesischen Geräthe, Bild- und Bau- werke, von der Haarnadel bis zum thurmhohen Phra-praṅ 64), von der Betelbüchse bis zum mächtigen Tempelbau. Das geübte Auge würde ein nie gesehenes siamesiches Ornament unter hunderten er- kennen. Wie die Gothik auf dem Spitzbogen, so fusst die siame- sische Baukunst auf einer bestimmten Spitzwinkligkeit; wenn auch beide Grundformen der in gewissen Winkeln gegeneinander geneigten Curven und Graden nur in den gipfelden Linien rein auftreten, so haben sich doch das constructive System und die Ornamentik aus demselben entwickelt. Das spitzige Dach des schwimmenden Hauses und der Bambushütte zeigt in seinen Winkeln die elementare Form der siamesischen Königskrone und Thurmpyramide; dieselbe Spitz- winkligkeit ist in der freiesten Ausladung der Zierrathen, in den phantastisch geschwungenen Linien der siamesischen Blatt-Arabeske versteckt. — Die wenigen Bauten in Baṅkok, an welchen italienische Architecten mitgewirkt haben, bleiben hier selbstredend ausser Betrachtung. Die Schönheiten des eigentlichen Tempelbaues kommen meist nur bei kleineren Gebäuden zur Geltung; in Wat Po stehen deren reizende. Der Grundriss ist ein längliches Rechteck. Den Kern bildet eine Cella mit glatten Wänden, auf welchen das vortretende Giebeldach ruht. Die Eingangsthür liegt in der Mitte der Giebel- wand, deren spitziges Dreieck mit bunten Arabesken auf Goldgrund in Glasmosaik ausgefüllt ist. Jede Seitenwand der Cella hat eine Reihe Fenster mit Rahmen von vergoldetem Stuckornament und hölzernen Läden mit Gold-Arabesken auf schwarzem Grund. Bei etwas grösseren Tempeln tritt der Giebel von vier Pfeilern getragen über die Vorderwand heraus, eine Vorhalle bildend. Die Pfeiler sind vier oder achteckig; letztere verjüngen sich säulenartig und tragen vergoldete Blattcapitäle; das mittelste dem Eingang ent- sprechende Intercolumnium ist breiter. Bei diesen Tempeln sind die Mittelpfeiler, das verkleinerte Giebelfeld tragend, oft kürzer als die Eckpfeiler, auf welchen die Dachkanten ruhen; dann ver- bindet schreinartiges oder zackenförmig herabhangendes durchbro- 64) Phra-praṅ heissen die pyramidenartigen Thürme, welche bei vielen Tempeln zu Ehren des Budda errichtet werden. Ueber den Unterschied zwischen Phra-praṅ, Phratšedi und Phra-satub giebt Dr. Bastian’s Buch über Siam (S. 80) Belehrung. Danach scheint Phra-satub der siamesische Ausdruck für die glockenförmigen Monumente zu sein, die auf Ceylon Dagoba heissen.

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Zitationshilfe: Martens, Georg von: Die preussische Expedition nach Ost-Asien. Nach amtlichen Quellen. Vierter Band. Berlin, 1873, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/berg_ostasien04_1873/292>, abgerufen am 26.04.2024.