schaft nie etwas gehalten habe". Militärkabinett und Kriegs- ministerium heckten zusammen den neuen Mann aus: den Junker Otto von Bismarck.
5.
Die Umkehr der Moralbegriffe, die Luther vornahm, indem er der Brutalität deutscher Fürsten des 16. Jahr- hunderts die päpstliche Würde, der Obrigkeit und dem Staate göttliche Kraft verlieh, bestätigt die Erbsünde unserer Nation, ihren paradoxalen Freiheitsbegriff, das Wohlbehagen im Zustande der Barbarei. Mereschkowski nannte die Re- formation den "zweiten Einbruch der Barbaren" in die lateinischen Sitten 91). Und in der Tat: die Freude an der geglückten Zerstörung -- die sogenannte Schadenfreude -- und die Heiligsprechung der Profanation sind der Sinn des Lutheranismus, dessen Gipfel ist: die Verherrlichung aller Attentate auf den Geist, die Abschaffung der Moral und des Allmenschentums, die Zerstörung der Religion und des Menschheitsgewissens.
Die Weltseele musste Bismarck erfinden, um Europa an einem flagranten Beispiel zu zeigen, worin man in Deutschland sich einig ist und was einer vermag, der die deutschen Freiheitsbegriffe versteht. Man hat Bismarck "von allen Deutschen den deutschesten Mann" genannt 92), und wenn die Bismarcktürme aller deutschen Gaue etwas be- weisen, dann mit Recht. Er hat die Nation tiefer entfesselt als Luther und Nietzsche. Er war der "freieste" Deutsche. Selbst vor den schlimmsten Instinkten scheute er nicht zurück. Er hat die Nation an den Tag gebracht wie keiner vor ihm, unmissverständlich und ohne Bedenken.
Der Begriff deutsch steht selbst unter Deutschen keines- wegs fest, und unter Ausländern nur als Schimpfwort. Her- vorragende Führer haben sich vergebens bemüht, eine Norm aufzustellen, was eigentlich deutsch sei. Sie widersprachen
schaft nie etwas gehalten habe“. Militärkabinett und Kriegs- ministerium heckten zusammen den neuen Mann aus: den Junker Otto von Bismarck.
5.
Die Umkehr der Moralbegriffe, die Luther vornahm, indem er der Brutalität deutscher Fürsten des 16. Jahr- hunderts die päpstliche Würde, der Obrigkeit und dem Staate göttliche Kraft verlieh, bestätigt die Erbsünde unserer Nation, ihren paradoxalen Freiheitsbegriff, das Wohlbehagen im Zustande der Barbarei. Mereschkowski nannte die Re- formation den „zweiten Einbruch der Barbaren“ in die lateinischen Sitten 91). Und in der Tat: die Freude an der geglückten Zerstörung — die sogenannte Schadenfreude — und die Heiligsprechung der Profanation sind der Sinn des Lutheranismus, dessen Gipfel ist: die Verherrlichung aller Attentate auf den Geist, die Abschaffung der Moral und des Allmenschentums, die Zerstörung der Religion und des Menschheitsgewissens.
Die Weltseele musste Bismarck erfinden, um Europa an einem flagranten Beispiel zu zeigen, worin man in Deutschland sich einig ist und was einer vermag, der die deutschen Freiheitsbegriffe versteht. Man hat Bismarck „von allen Deutschen den deutschesten Mann“ genannt 92), und wenn die Bismarcktürme aller deutschen Gaue etwas be- weisen, dann mit Recht. Er hat die Nation tiefer entfesselt als Luther und Nietzsche. Er war der „freieste“ Deutsche. Selbst vor den schlimmsten Instinkten scheute er nicht zurück. Er hat die Nation an den Tag gebracht wie keiner vor ihm, unmissverständlich und ohne Bedenken.
Der Begriff deutsch steht selbst unter Deutschen keines- wegs fest, und unter Ausländern nur als Schimpfwort. Her- vorragende Führer haben sich vergebens bemüht, eine Norm aufzustellen, was eigentlich deutsch sei. Sie widersprachen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0219"n="211"/>
schaft nie etwas gehalten habe“. Militärkabinett und Kriegs-<lb/>
ministerium heckten zusammen den neuen Mann aus: den<lb/>
Junker Otto von Bismarck.</p><lb/></div><divn="2"><head>5.<lb/></head><p>Die Umkehr der Moralbegriffe, die Luther vornahm,<lb/>
indem er der Brutalität deutscher Fürsten des 16. Jahr-<lb/>
hunderts die päpstliche Würde, der Obrigkeit und dem<lb/>
Staate göttliche Kraft verlieh, bestätigt die Erbsünde unserer<lb/>
Nation, ihren paradoxalen Freiheitsbegriff, das Wohlbehagen<lb/>
im Zustande der Barbarei. Mereschkowski nannte die Re-<lb/>
formation den „zweiten Einbruch der Barbaren“ in die<lb/>
lateinischen Sitten <notexml:id="id91d"next="id91d91d"place="end"n="91)"/>. Und in der Tat: die Freude an der<lb/>
geglückten Zerstörung — die sogenannte Schadenfreude —<lb/>
und die Heiligsprechung der Profanation sind der Sinn<lb/>
des Lutheranismus, dessen Gipfel ist: die Verherrlichung<lb/>
aller Attentate auf den Geist, die Abschaffung der Moral<lb/>
und des Allmenschentums, die Zerstörung der Religion und<lb/>
des Menschheitsgewissens.</p><lb/><p>Die Weltseele musste Bismarck erfinden, um Europa<lb/>
an einem flagranten Beispiel zu zeigen, worin man in<lb/>
Deutschland sich einig ist und was einer vermag, der die<lb/>
deutschen Freiheitsbegriffe versteht. Man hat Bismarck „von<lb/>
allen Deutschen den deutschesten Mann“ genannt <notexml:id="id92d"next="id92d92d"place="end"n="92)"/>, und<lb/>
wenn die Bismarcktürme aller deutschen Gaue etwas be-<lb/>
weisen, dann mit Recht. Er hat die Nation tiefer entfesselt<lb/>
als Luther und Nietzsche. Er war der „freieste“ Deutsche.<lb/>
Selbst vor den schlimmsten Instinkten scheute er nicht<lb/>
zurück. Er hat die Nation an den Tag gebracht wie keiner<lb/>
vor ihm, unmissverständlich und ohne Bedenken.</p><lb/><p>Der Begriff deutsch steht selbst unter Deutschen keines-<lb/>
wegs fest, und unter Ausländern nur als Schimpfwort. Her-<lb/>
vorragende Führer haben sich vergebens bemüht, eine Norm<lb/>
aufzustellen, was eigentlich deutsch sei. Sie widersprachen<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[211/0219]
schaft nie etwas gehalten habe“. Militärkabinett und Kriegs-
ministerium heckten zusammen den neuen Mann aus: den
Junker Otto von Bismarck.
5.
Die Umkehr der Moralbegriffe, die Luther vornahm,
indem er der Brutalität deutscher Fürsten des 16. Jahr-
hunderts die päpstliche Würde, der Obrigkeit und dem
Staate göttliche Kraft verlieh, bestätigt die Erbsünde unserer
Nation, ihren paradoxalen Freiheitsbegriff, das Wohlbehagen
im Zustande der Barbarei. Mereschkowski nannte die Re-
formation den „zweiten Einbruch der Barbaren“ in die
lateinischen Sitten
⁹¹⁾
. Und in der Tat: die Freude an der
geglückten Zerstörung — die sogenannte Schadenfreude —
und die Heiligsprechung der Profanation sind der Sinn
des Lutheranismus, dessen Gipfel ist: die Verherrlichung
aller Attentate auf den Geist, die Abschaffung der Moral
und des Allmenschentums, die Zerstörung der Religion und
des Menschheitsgewissens.
Die Weltseele musste Bismarck erfinden, um Europa
an einem flagranten Beispiel zu zeigen, worin man in
Deutschland sich einig ist und was einer vermag, der die
deutschen Freiheitsbegriffe versteht. Man hat Bismarck „von
allen Deutschen den deutschesten Mann“ genannt
⁹²⁾
, und
wenn die Bismarcktürme aller deutschen Gaue etwas be-
weisen, dann mit Recht. Er hat die Nation tiefer entfesselt
als Luther und Nietzsche. Er war der „freieste“ Deutsche.
Selbst vor den schlimmsten Instinkten scheute er nicht
zurück. Er hat die Nation an den Tag gebracht wie keiner
vor ihm, unmissverständlich und ohne Bedenken.
Der Begriff deutsch steht selbst unter Deutschen keines-
wegs fest, und unter Ausländern nur als Schimpfwort. Her-
vorragende Führer haben sich vergebens bemüht, eine Norm
aufzustellen, was eigentlich deutsch sei. Sie widersprachen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ball, Hugo: Zur Kritik der deutschen Intelligenz. Bern, 1919, S. 211. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ball_intelligenz_1919/219>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.