Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Bach, Carl Philipp Emanuel: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Bd. 2. Berlin, 1762.

Bild:
<< vorherige Seite

Von der Nothwendigkeit der Bezifferung.
hat seit einiger Zeit angefangen, mit mehrerm Fleisse, als vor-
her, die kleinen wesentlichen Manieren, und die nöthigen Zeichen
des guten Vortrages in der Schreibart zu bemerken; möchten
doch auch die unbezifferten Bässe nach und nach rarer werden, und
die Clavieristen weniger Gutwilligkeit zeigen, alles dasjenige gleich
zu thun, was man von ihnen fordert! Jeder anderer Ripienist
darf sich beschweren, wenn man ihm eine unrichtig geschriebene
Stimme vorleget, da hingegen der Accompagnist zufrieden seyn
muß, wenn seine Grundstimme entweder gar nicht, oder so spar-
sam beziffert ist, daß die wenigen Ziffern, welche man noch etwa
findet, mehrentheils da angebracht sind, wo sie leicht zu errathen
waren. Kurz zu sagen: Man verlanget mit Unrecht von einem
Begleiter, daß er den Generalbaß mit, und ohne Ziffern aus
dem Grunde gelernet haben soll.

§. 2.

Es haben sich einige wegen der Abfertigung un-
bezifferter Bässe viele Mühe gegeben, und ich kann nicht läugnen,
daß ich zuweilen selbst Versuche von dieser Art angestellet habe:
allein, je mehr ich hierüber nachdachte, desto reicher fand ich die
Harmonie an Wendungen, welche durch die Feinigkeiten des Ge-
schmacks noch alle Tage dergestalt vermehret werden, daß man
unmöglich den freyen Gedanken eines Componisten, welchem die
gütige Natur das Unerschöpfliche seines Metiers einsehen lässet,
durch fest gesetzte Regeln gleichsam Schranken setzen, und seine
willkührlichen Wendungen errathen kann. Und gesetzt, es liesse
sich etwas hierinnen bestimmen: soll man etwa mit dem Auswen-
diglernen dieser Regeln, deren Anzahl nicht geringe seyn kann,
und die dennoch nicht allezeit Stich halten, das Gedächtniß mar-
tern? Soll man nachher auf das neue, wenn man nun endlich
die gegebenen Regeln gelernet hat, viele Zeit und Mühe verschwen-
den, um die Ausnahmen wider diese Regeln zu behalten? Und

dessen
P p 2

Von der Nothwendigkeit der Bezifferung.
hat ſeit einiger Zeit angefangen, mit mehrerm Fleiſſe, als vor-
her, die kleinen weſentlichen Manieren, und die nöthigen Zeichen
des guten Vortrages in der Schreibart zu bemerken; möchten
doch auch die unbezifferten Bäſſe nach und nach rarer werden, und
die Clavieriſten weniger Gutwilligkeit zeigen, alles dasjenige gleich
zu thun, was man von ihnen fordert! Jeder anderer Ripieniſt
darf ſich beſchweren, wenn man ihm eine unrichtig geſchriebene
Stimme vorleget, da hingegen der Accompagniſt zufrieden ſeyn
muß, wenn ſeine Grundſtimme entweder gar nicht, oder ſo ſpar-
ſam beziffert iſt, daß die wenigen Ziffern, welche man noch etwa
findet, mehrentheils da angebracht ſind, wo ſie leicht zu errathen
waren. Kurz zu ſagen: Man verlanget mit Unrecht von einem
Begleiter, daß er den Generalbaß mit, und ohne Ziffern aus
dem Grunde gelernet haben ſoll.

§. 2.

Es haben ſich einige wegen der Abfertigung un-
bezifferter Bäſſe viele Mühe gegeben, und ich kann nicht läugnen,
daß ich zuweilen ſelbſt Verſuche von dieſer Art angeſtellet habe:
allein, je mehr ich hierüber nachdachte, deſto reicher fand ich die
Harmonie an Wendungen, welche durch die Feinigkeiten des Ge-
ſchmacks noch alle Tage dergeſtalt vermehret werden, daß man
unmöglich den freyen Gedanken eines Componiſten, welchem die
gütige Natur das Unerſchöpfliche ſeines Metiers einſehen läſſet,
durch feſt geſetzte Regeln gleichſam Schranken ſetzen, und ſeine
willkührlichen Wendungen errathen kann. Und geſetzt, es lieſſe
ſich etwas hierinnen beſtimmen: ſoll man etwa mit dem Auswen-
diglernen dieſer Regeln, deren Anzahl nicht geringe ſeyn kann,
und die dennoch nicht allezeit Stich halten, das Gedächtniß mar-
tern? Soll man nachher auf das neue, wenn man nun endlich
die gegebenen Regeln gelernet hat, viele Zeit und Mühe verſchwen-
den, um die Ausnahmen wider dieſe Regeln zu behalten? Und

deſſen
P p 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0309" n="299"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Von der Nothwendigkeit der Bezifferung.</hi></fw><lb/>
hat &#x017F;eit einiger Zeit angefangen, mit mehrerm Flei&#x017F;&#x017F;e, als vor-<lb/>
her, die kleinen we&#x017F;entlichen Manieren, und die nöthigen Zeichen<lb/>
des guten Vortrages in der Schreibart zu bemerken; möchten<lb/>
doch auch die unbezifferten Bä&#x017F;&#x017F;e nach und nach rarer werden, und<lb/>
die Clavieri&#x017F;ten weniger Gutwilligkeit zeigen, alles dasjenige gleich<lb/>
zu thun, was man von ihnen fordert! Jeder anderer Ripieni&#x017F;t<lb/>
darf &#x017F;ich be&#x017F;chweren, wenn man ihm eine unrichtig ge&#x017F;chriebene<lb/>
Stimme vorleget, da hingegen der Accompagni&#x017F;t zufrieden &#x017F;eyn<lb/>
muß, wenn &#x017F;eine Grund&#x017F;timme entweder gar nicht, oder &#x017F;o &#x017F;par-<lb/>
&#x017F;am beziffert i&#x017F;t, daß die wenigen Ziffern, welche man noch etwa<lb/>
findet, mehrentheils da angebracht &#x017F;ind, wo &#x017F;ie leicht zu errathen<lb/>
waren. Kurz zu &#x017F;agen: Man verlanget mit Unrecht von einem<lb/>
Begleiter, daß er den Generalbaß mit, und ohne Ziffern aus<lb/>
dem Grunde gelernet haben &#x017F;oll.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head>§. 2.</head>
          <p>Es haben &#x017F;ich einige wegen der Abfertigung un-<lb/>
bezifferter Bä&#x017F;&#x017F;e viele Mühe gegeben, und ich kann nicht läugnen,<lb/>
daß ich zuweilen &#x017F;elb&#x017F;t Ver&#x017F;uche von die&#x017F;er Art ange&#x017F;tellet habe:<lb/>
allein, je mehr ich hierüber nachdachte, de&#x017F;to reicher fand ich die<lb/>
Harmonie an Wendungen, welche durch die Feinigkeiten des Ge-<lb/>
&#x017F;chmacks noch alle Tage derge&#x017F;talt vermehret werden, daß man<lb/>
unmöglich den freyen Gedanken eines Componi&#x017F;ten, welchem die<lb/>
gütige Natur das Uner&#x017F;chöpfliche &#x017F;eines Metiers ein&#x017F;ehen lä&#x017F;&#x017F;et,<lb/>
durch fe&#x017F;t ge&#x017F;etzte Regeln gleich&#x017F;am Schranken &#x017F;etzen, und &#x017F;eine<lb/>
willkührlichen Wendungen errathen kann. Und ge&#x017F;etzt, es lie&#x017F;&#x017F;e<lb/>
&#x017F;ich etwas hierinnen be&#x017F;timmen: &#x017F;oll man etwa mit dem Auswen-<lb/>
diglernen die&#x017F;er Regeln, deren Anzahl nicht geringe &#x017F;eyn kann,<lb/>
und die dennoch nicht allezeit Stich halten, das Gedächtniß mar-<lb/>
tern? Soll man nachher auf das neue, wenn man nun endlich<lb/>
die gegebenen Regeln gelernet hat, viele Zeit und Mühe ver&#x017F;chwen-<lb/>
den, um die Ausnahmen wider die&#x017F;e Regeln zu behalten? Und<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">P p 2</fw><fw place="bottom" type="catch">de&#x017F;&#x017F;en</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[299/0309] Von der Nothwendigkeit der Bezifferung. hat ſeit einiger Zeit angefangen, mit mehrerm Fleiſſe, als vor- her, die kleinen weſentlichen Manieren, und die nöthigen Zeichen des guten Vortrages in der Schreibart zu bemerken; möchten doch auch die unbezifferten Bäſſe nach und nach rarer werden, und die Clavieriſten weniger Gutwilligkeit zeigen, alles dasjenige gleich zu thun, was man von ihnen fordert! Jeder anderer Ripieniſt darf ſich beſchweren, wenn man ihm eine unrichtig geſchriebene Stimme vorleget, da hingegen der Accompagniſt zufrieden ſeyn muß, wenn ſeine Grundſtimme entweder gar nicht, oder ſo ſpar- ſam beziffert iſt, daß die wenigen Ziffern, welche man noch etwa findet, mehrentheils da angebracht ſind, wo ſie leicht zu errathen waren. Kurz zu ſagen: Man verlanget mit Unrecht von einem Begleiter, daß er den Generalbaß mit, und ohne Ziffern aus dem Grunde gelernet haben ſoll. §. 2. Es haben ſich einige wegen der Abfertigung un- bezifferter Bäſſe viele Mühe gegeben, und ich kann nicht läugnen, daß ich zuweilen ſelbſt Verſuche von dieſer Art angeſtellet habe: allein, je mehr ich hierüber nachdachte, deſto reicher fand ich die Harmonie an Wendungen, welche durch die Feinigkeiten des Ge- ſchmacks noch alle Tage dergeſtalt vermehret werden, daß man unmöglich den freyen Gedanken eines Componiſten, welchem die gütige Natur das Unerſchöpfliche ſeines Metiers einſehen läſſet, durch feſt geſetzte Regeln gleichſam Schranken ſetzen, und ſeine willkührlichen Wendungen errathen kann. Und geſetzt, es lieſſe ſich etwas hierinnen beſtimmen: ſoll man etwa mit dem Auswen- diglernen dieſer Regeln, deren Anzahl nicht geringe ſeyn kann, und die dennoch nicht allezeit Stich halten, das Gedächtniß mar- tern? Soll man nachher auf das neue, wenn man nun endlich die gegebenen Regeln gelernet hat, viele Zeit und Mühe verſchwen- den, um die Ausnahmen wider dieſe Regeln zu behalten? Und deſſen P p 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/bach_versuch02_1762
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/bach_versuch02_1762/309
Zitationshilfe: Bach, Carl Philipp Emanuel: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Bd. 2. Berlin, 1762, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/bach_versuch02_1762/309>, abgerufen am 21.12.2024.