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Allgemeine Zeitung. Nr. 109. Augsburg, 18. April 1840.

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durch die europäischen Mächte dazu gezwungen werden, und diese Gefahr ist vor der Thür. Sie schien dem europäischen Auge am größten, und war der That nach am kleinsten am Tage nach dem Tode des Sultans; sie mag am kleinsten scheinen, und wird am größten seyn am Tage nach dem Erscheinen europäischer Truppen auf ägyptischem oder syrischem Boden.

"Welcher der letzte Gedanke dieser oder jener europäischen Macht sey, gehört nicht in unsern Kreis. Ist Rußland wirklich so aufrichtig sorgend für die Unabhängigkeit und Stärke der Türkei, so wundern wir uns nur über die englische Politik vom Adrianopeler Frieden bis zur heutigen Stunde. Hätten aber auch alle Cabinette eine und dieselbe Ansicht über den zweckmäßigsten Weg, die Türkei zu sichern, so würde das für uns kein Beweis seyn: alle Cabinette haben die Reformen des Sultans Mahmud gepriesen, und doch waren es verderbliche, wie heute ein feierlich verkündeter und abermals vielgepriesener Hattischerif selbst erklärt hat. Wir werden nach unserer innigsten Ueberzeugung und besten Kenntniß immer sagen: Chosrew Pascha und seine Partei, wenn gleich von mehr als einem fremden Don Quixote in Konstantinopel heiß unterstützt, sind nicht das Reich; Chosrew Pascha und Consorten sind nicht der Sultan; jene retten, heißt nicht diese retten. Die Spaltung forterhalten, heißt nicht den Frieden sichern; Mehemed Ali todtschlagen, heißt nicht das Reich stärken; Mehemed Ali demüthigen, brechen, heißt es eben so wenig. Einen zweiten Vertrag von Kiutahia mit halben Maaßregeln machen, heißt eine Saat säen, derjenigen gleich, die so erbaulich bei Nisib aufging - heißt mit ungeheuren Opfern nichts als einen nothwendigen Feind der Pforte und Europa eine reiche Quelle drängender Besorgniß erkauft haben. Hätten aber die europäischen Mächte sich gar nicht in die innern Angelegenheiten der Türken gemischt, hätten sie nie den Sultan bevormundet, so wäre ohne allen Zweifel längst das entgegengesetzte Resultat, bei Mahmud durch den Drang der Umstände, bei Abdul-Medschid durch die Erkenntniß seines wahren Vortheils, erreicht worden."

So standen und stehen sich noch beide Parteien in ihren Ansichten gegenüber. Nur die Zukunft wird lehren, welche richtiger sah. Recht fester Wille macht sich weder auf der einen noch auf der andern Seite bemerkbar - man zögert, redet, schreibt hin und wieder, und hofft, daß sich die Sachen am Ende von selbst machen werden. Unterdessen steht das Pulverfaß offen, und es ist wohl möglich, daß - trotz der beruhigenden Briefe, die Hr. Anselm v. Rothschild in London hierüber erhalten haben soll - der Teufel dennoch unversehens einen Funken hineinwirft, um seine Freunde mit einem kleinen Feuerwerk zu überraschen, dessen Raketen und Schwärmer sich vielleicht weiter hin sicht- und fühlbar machen werden, als Viele glauben oder zu glauben vorgeben.

Henriette v. Paalzow.

Die Hallischen Jahrbücher enthalten eine Beurtheilung von "St. Roche", dem neuesten Roman der Verfasserin von "Godwie-Castle." Das geheimnißvolle Interesse, das sich an die lange unbekannte Verfasserin knüpfte, so wie der Standpunkt, den der Beurtheiler gewählt, bewegen uns zu ein paar Auszügen.

"Die Romane dieser Dichterin, Henriette v. Paalzow, gehören der Richtung an, welche aus der Nachahmung Walter Scotts sich in Deutschland hervorgebildet hat, und zwar sehen wir in ihr den jüngsten und vielleicht letzten Nachwuchs dieser Richtung, denn erst im Jahr 1837 ist sie mit Godwie-Castle hervorgetreten.

"Dieser Roman fand einen unerwartet großen Beifall, den er jedoch mehr der Zufälligkeit seiner Anonymität verdankte. Der Verleger hatte das Manuscript nebst einer Summe von 500 Thalern für die Druckkosten, ohne irgend eine Namennennung, aus Berlin zugeschickt erhalten, und natürlich sogleich voller Freuden gedruckt. Wer anders konnte nun, so ließen sich die Hypothesen über den Verfasser vernehmen, diese Kosten aufgewendet haben, als eine "hohe Person"? und so rieth man alsbald auf eine preußische Prinzessin, die man als eifrige Schülerin "Goethe's" kannte. Indessen war diese Vermuthung ganz ohne Grund; der Prinzessin war es nicht eingefallen, Romane zu dichten. Das geheimnißvolle Dunkel machte den Roman zehnmal interessanter, als er war. Indessen verdiente er den größten Theil dieses Beifalls doch. Die Phantasie der Dichterin zeigte sich höchst schöpferisch in den mannichfaltigsten Situationen, die auf das geschickteste und geschmackvollste genreartig im Costume der Zeit Karls I ausgemalt waren, und in der Charakteristik rang sie sichtlich nach dem höchsten Ziele: der Einigung des psychologischen Interesses mit dem historischen; ihr Gemüth war offenbar ein tief poetisches. Als Ganzes betrachtet zeigte sich der Roman indessen zu complicirt, und deßhalb zu wirr in der Composition, und in der Charakteristik trat zu überwiegend das weibliche Element vor: ein jugendliches, mit allen Vorzügen des Geistes ausgestattetes Wesen nahm den Vordergrund der Dichtung an, daran schlossen sich ältere weibliche Gestalten, welche die formelle Abgeschlossenheit des weiblichen Lebens repräsentirten, während jene die Bildung des freiwerdenden Charakters darstellte, und um diese gruppirte sich dann die große Zahl von Männergebilden, die meistentheils sehr charakterschwach erschienen. Die Breite der Reflexionen war ferner ein wesentlicher Mangel der Dichtung. Die Bildung der Weltanschauung, welche sich darin aussprach, stellte die Dichterin jedoch neben unsere besten Romandichter; man fühlte es sogleich, daß man es mit einer Frau aus der gebildetsten Sphäre der Gesellschaft zu thun hatte, und dieß war es vorzüglich, was Godwie-Castle den Erfolg sicherte.

"Es ist eine oft gemachte, aber gewiß noch oft zu machende Bemerkung, daß dichtende Frauen einseitig sind in der Richtung ihres Geistes, wie in der Bildung ihrer Gestalten. Ein Typus des menschlichen Wesens, ein Ideal stellt sich ihnen dar, und an dieses sind sie gebannt, darüber hinaus kommen sie nicht, oder wenn sie es thun, verliert sich die Eigenthümlichkeit ihres Talents. Selbst bei der Dudevant kann man diese Einseitigkeit beobachten. Die eine Gestalt der frei gewordenen, charakter- und geisteskräftigen Frau geht durch alle ihre Dichtungen, und wo sie davon abläßt, wie im Uscoque, verliert ihre poetische Kraft bedeutend, und nur in kleineren Schilderungen, wie in den maeitres mosaeistes, erhebt sie sich wieder. Bei unsern deutschen Dichterinnen ist dieß nun gar der Fall. Diesen kann unsern Zuständen gemäß nur der Idealismus der individuellen Bildung als das höchste Ziel des Sinnens und Trachtens gelten, und auf die Gestaltung dieses Bildungsprocesses im weiblichen Gemüth, auf seine Darstellung innerhalb der socialen Formen kann sich daher auch nur der dichtende Geist des Weibes erstrecken, während dem Manne, der seine Anschauungen und Gedanken dem werdenden Leben der Geschichte entnimmt, die ewig neu sich gebärende Kraft des Völkerlebens sich offenbart, und daraus auch eine stets wechselnde Gestaltung der Charakteristik sich ergibt. Auch bei Henriette v. Paalzow finden wir nun dieselbe Einseitigkeit der Richtung, dieselbe Wiederholung der Gestaltenbildung. Indessen ist diese Metamorphose doch in

durch die europäischen Mächte dazu gezwungen werden, und diese Gefahr ist vor der Thür. Sie schien dem europäischen Auge am größten, und war der That nach am kleinsten am Tage nach dem Tode des Sultans; sie mag am kleinsten scheinen, und wird am größten seyn am Tage nach dem Erscheinen europäischer Truppen auf ägyptischem oder syrischem Boden.

„Welcher der letzte Gedanke dieser oder jener europäischen Macht sey, gehört nicht in unsern Kreis. Ist Rußland wirklich so aufrichtig sorgend für die Unabhängigkeit und Stärke der Türkei, so wundern wir uns nur über die englische Politik vom Adrianopeler Frieden bis zur heutigen Stunde. Hätten aber auch alle Cabinette eine und dieselbe Ansicht über den zweckmäßigsten Weg, die Türkei zu sichern, so würde das für uns kein Beweis seyn: alle Cabinette haben die Reformen des Sultans Mahmud gepriesen, und doch waren es verderbliche, wie heute ein feierlich verkündeter und abermals vielgepriesener Hattischerif selbst erklärt hat. Wir werden nach unserer innigsten Ueberzeugung und besten Kenntniß immer sagen: Chosrew Pascha und seine Partei, wenn gleich von mehr als einem fremden Don Quixote in Konstantinopel heiß unterstützt, sind nicht das Reich; Chosrew Pascha und Consorten sind nicht der Sultan; jene retten, heißt nicht diese retten. Die Spaltung forterhalten, heißt nicht den Frieden sichern; Mehemed Ali todtschlagen, heißt nicht das Reich stärken; Mehemed Ali demüthigen, brechen, heißt es eben so wenig. Einen zweiten Vertrag von Kiutahia mit halben Maaßregeln machen, heißt eine Saat säen, derjenigen gleich, die so erbaulich bei Nisib aufging – heißt mit ungeheuren Opfern nichts als einen nothwendigen Feind der Pforte und Europa eine reiche Quelle drängender Besorgniß erkauft haben. Hätten aber die europäischen Mächte sich gar nicht in die innern Angelegenheiten der Türken gemischt, hätten sie nie den Sultan bevormundet, so wäre ohne allen Zweifel längst das entgegengesetzte Resultat, bei Mahmud durch den Drang der Umstände, bei Abdul-Medschid durch die Erkenntniß seines wahren Vortheils, erreicht worden.“

So standen und stehen sich noch beide Parteien in ihren Ansichten gegenüber. Nur die Zukunft wird lehren, welche richtiger sah. Recht fester Wille macht sich weder auf der einen noch auf der andern Seite bemerkbar – man zögert, redet, schreibt hin und wieder, und hofft, daß sich die Sachen am Ende von selbst machen werden. Unterdessen steht das Pulverfaß offen, und es ist wohl möglich, daß – trotz der beruhigenden Briefe, die Hr. Anselm v. Rothschild in London hierüber erhalten haben soll – der Teufel dennoch unversehens einen Funken hineinwirft, um seine Freunde mit einem kleinen Feuerwerk zu überraschen, dessen Raketen und Schwärmer sich vielleicht weiter hin sicht- und fühlbar machen werden, als Viele glauben oder zu glauben vorgeben.

Henriette v. Paalzow.

Die Hallischen Jahrbücher enthalten eine Beurtheilung von „St. Roche“, dem neuesten Roman der Verfasserin von „Godwie-Castle.“ Das geheimnißvolle Interesse, das sich an die lange unbekannte Verfasserin knüpfte, so wie der Standpunkt, den der Beurtheiler gewählt, bewegen uns zu ein paar Auszügen.

„Die Romane dieser Dichterin, Henriette v. Paalzow, gehören der Richtung an, welche aus der Nachahmung Walter Scotts sich in Deutschland hervorgebildet hat, und zwar sehen wir in ihr den jüngsten und vielleicht letzten Nachwuchs dieser Richtung, denn erst im Jahr 1837 ist sie mit Godwie-Castle hervorgetreten.

„Dieser Roman fand einen unerwartet großen Beifall, den er jedoch mehr der Zufälligkeit seiner Anonymität verdankte. Der Verleger hatte das Manuscript nebst einer Summe von 500 Thalern für die Druckkosten, ohne irgend eine Namennennung, aus Berlin zugeschickt erhalten, und natürlich sogleich voller Freuden gedruckt. Wer anders konnte nun, so ließen sich die Hypothesen über den Verfasser vernehmen, diese Kosten aufgewendet haben, als eine „hohe Person“? und so rieth man alsbald auf eine preußische Prinzessin, die man als eifrige Schülerin „Goethe's“ kannte. Indessen war diese Vermuthung ganz ohne Grund; der Prinzessin war es nicht eingefallen, Romane zu dichten. Das geheimnißvolle Dunkel machte den Roman zehnmal interessanter, als er war. Indessen verdiente er den größten Theil dieses Beifalls doch. Die Phantasie der Dichterin zeigte sich höchst schöpferisch in den mannichfaltigsten Situationen, die auf das geschickteste und geschmackvollste genreartig im Costume der Zeit Karls I ausgemalt waren, und in der Charakteristik rang sie sichtlich nach dem höchsten Ziele: der Einigung des psychologischen Interesses mit dem historischen; ihr Gemüth war offenbar ein tief poetisches. Als Ganzes betrachtet zeigte sich der Roman indessen zu complicirt, und deßhalb zu wirr in der Composition, und in der Charakteristik trat zu überwiegend das weibliche Element vor: ein jugendliches, mit allen Vorzügen des Geistes ausgestattetes Wesen nahm den Vordergrund der Dichtung an, daran schlossen sich ältere weibliche Gestalten, welche die formelle Abgeschlossenheit des weiblichen Lebens repräsentirten, während jene die Bildung des freiwerdenden Charakters darstellte, und um diese gruppirte sich dann die große Zahl von Männergebilden, die meistentheils sehr charakterschwach erschienen. Die Breite der Reflexionen war ferner ein wesentlicher Mangel der Dichtung. Die Bildung der Weltanschauung, welche sich darin aussprach, stellte die Dichterin jedoch neben unsere besten Romandichter; man fühlte es sogleich, daß man es mit einer Frau aus der gebildetsten Sphäre der Gesellschaft zu thun hatte, und dieß war es vorzüglich, was Godwie-Castle den Erfolg sicherte.

„Es ist eine oft gemachte, aber gewiß noch oft zu machende Bemerkung, daß dichtende Frauen einseitig sind in der Richtung ihres Geistes, wie in der Bildung ihrer Gestalten. Ein Typus des menschlichen Wesens, ein Ideal stellt sich ihnen dar, und an dieses sind sie gebannt, darüber hinaus kommen sie nicht, oder wenn sie es thun, verliert sich die Eigenthümlichkeit ihres Talents. Selbst bei der Dudevant kann man diese Einseitigkeit beobachten. Die eine Gestalt der frei gewordenen, charakter- und geisteskräftigen Frau geht durch alle ihre Dichtungen, und wo sie davon abläßt, wie im Uscoque, verliert ihre poetische Kraft bedeutend, und nur in kleineren Schilderungen, wie in den maîtres mosaîstes, erhebt sie sich wieder. Bei unsern deutschen Dichterinnen ist dieß nun gar der Fall. Diesen kann unsern Zuständen gemäß nur der Idealismus der individuellen Bildung als das höchste Ziel des Sinnens und Trachtens gelten, und auf die Gestaltung dieses Bildungsprocesses im weiblichen Gemüth, auf seine Darstellung innerhalb der socialen Formen kann sich daher auch nur der dichtende Geist des Weibes erstrecken, während dem Manne, der seine Anschauungen und Gedanken dem werdenden Leben der Geschichte entnimmt, die ewig neu sich gebärende Kraft des Völkerlebens sich offenbart, und daraus auch eine stets wechselnde Gestaltung der Charakteristik sich ergibt. Auch bei Henriette v. Paalzow finden wir nun dieselbe Einseitigkeit der Richtung, dieselbe Wiederholung der Gestaltenbildung. Indessen ist diese Metamorphose doch in

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Wir werden nach unserer innigsten Ueberzeugung und besten Kenntniß immer sagen: Chosrew Pascha und seine Partei, wenn gleich von mehr als einem fremden Don Quixote in Konstantinopel heiß unterstützt, sind nicht das Reich; Chosrew Pascha und Consorten sind nicht der Sultan; jene retten, heißt nicht diese retten. Die Spaltung forterhalten, heißt nicht den Frieden sichern; Mehemed Ali todtschlagen, heißt nicht das Reich stärken; Mehemed Ali demüthigen, brechen, heißt es eben so wenig. Einen zweiten Vertrag von Kiutahia mit halben Maaßregeln machen, heißt eine Saat säen, derjenigen gleich, die so erbaulich bei Nisib aufging – heißt mit ungeheuren Opfern nichts als einen nothwendigen Feind der Pforte und Europa eine reiche Quelle drängender Besorgniß erkauft haben. Hätten aber die europäischen Mächte sich gar nicht in die innern Angelegenheiten der Türken gemischt, hätten sie nie den Sultan bevormundet, so wäre ohne allen Zweifel längst das entgegengesetzte Resultat, bei Mahmud durch den Drang der Umstände, bei Abdul-Medschid durch die Erkenntniß seines wahren Vortheils, erreicht worden.“ So standen und stehen sich noch beide Parteien in ihren Ansichten gegenüber. Nur die Zukunft wird lehren, welche richtiger sah. Recht fester Wille macht sich weder auf der einen noch auf der andern Seite bemerkbar – man zögert, redet, schreibt hin und wieder, und hofft, daß sich die Sachen am Ende von selbst machen werden. Unterdessen steht das Pulverfaß offen, und es ist wohl möglich, daß – trotz der beruhigenden Briefe, die Hr. Anselm v. Rothschild in London hierüber erhalten haben soll – der Teufel dennoch unversehens einen Funken hineinwirft, um seine Freunde mit einem kleinen Feuerwerk zu überraschen, dessen Raketen und Schwärmer sich vielleicht weiter hin sicht- und fühlbar machen werden, als Viele glauben oder zu glauben vorgeben. Henriette v. Paalzow. Die Hallischen Jahrbücher enthalten eine Beurtheilung von „St. Roche“, dem neuesten Roman der Verfasserin von „Godwie-Castle.“ Das geheimnißvolle Interesse, das sich an die lange unbekannte Verfasserin knüpfte, so wie der Standpunkt, den der Beurtheiler gewählt, bewegen uns zu ein paar Auszügen. „Die Romane dieser Dichterin, Henriette v. Paalzow, gehören der Richtung an, welche aus der Nachahmung Walter Scotts sich in Deutschland hervorgebildet hat, und zwar sehen wir in ihr den jüngsten und vielleicht letzten Nachwuchs dieser Richtung, denn erst im Jahr 1837 ist sie mit Godwie-Castle hervorgetreten. „Dieser Roman fand einen unerwartet großen Beifall, den er jedoch mehr der Zufälligkeit seiner Anonymität verdankte. Der Verleger hatte das Manuscript nebst einer Summe von 500 Thalern für die Druckkosten, ohne irgend eine Namennennung, aus Berlin zugeschickt erhalten, und natürlich sogleich voller Freuden gedruckt. Wer anders konnte nun, so ließen sich die Hypothesen über den Verfasser vernehmen, diese Kosten aufgewendet haben, als eine „hohe Person“? und so rieth man alsbald auf eine preußische Prinzessin, die man als eifrige Schülerin „Goethe's“ kannte. Indessen war diese Vermuthung ganz ohne Grund; der Prinzessin war es nicht eingefallen, Romane zu dichten. Das geheimnißvolle Dunkel machte den Roman zehnmal interessanter, als er war. Indessen verdiente er den größten Theil dieses Beifalls doch. Die Phantasie der Dichterin zeigte sich höchst schöpferisch in den mannichfaltigsten Situationen, die auf das geschickteste und geschmackvollste genreartig im Costume der Zeit Karls I ausgemalt waren, und in der Charakteristik rang sie sichtlich nach dem höchsten Ziele: der Einigung des psychologischen Interesses mit dem historischen; ihr Gemüth war offenbar ein tief poetisches. Als Ganzes betrachtet zeigte sich der Roman indessen zu complicirt, und deßhalb zu wirr in der Composition, und in der Charakteristik trat zu überwiegend das weibliche Element vor: ein jugendliches, mit allen Vorzügen des Geistes ausgestattetes Wesen nahm den Vordergrund der Dichtung an, daran schlossen sich ältere weibliche Gestalten, welche die formelle Abgeschlossenheit des weiblichen Lebens repräsentirten, während jene die Bildung des freiwerdenden Charakters darstellte, und um diese gruppirte sich dann die große Zahl von Männergebilden, die meistentheils sehr charakterschwach erschienen. Die Breite der Reflexionen war ferner ein wesentlicher Mangel der Dichtung. Die Bildung der Weltanschauung, welche sich darin aussprach, stellte die Dichterin jedoch neben unsere besten Romandichter; man fühlte es sogleich, daß man es mit einer Frau aus der gebildetsten Sphäre der Gesellschaft zu thun hatte, und dieß war es vorzüglich, was Godwie-Castle den Erfolg sicherte. „Es ist eine oft gemachte, aber gewiß noch oft zu machende Bemerkung, daß dichtende Frauen einseitig sind in der Richtung ihres Geistes, wie in der Bildung ihrer Gestalten. Ein Typus des menschlichen Wesens, ein Ideal stellt sich ihnen dar, und an dieses sind sie gebannt, darüber hinaus kommen sie nicht, oder wenn sie es thun, verliert sich die Eigenthümlichkeit ihres Talents. Selbst bei der Dudevant kann man diese Einseitigkeit beobachten. Die eine Gestalt der frei gewordenen, charakter- und geisteskräftigen Frau geht durch alle ihre Dichtungen, und wo sie davon abläßt, wie im Uscoque, verliert ihre poetische Kraft bedeutend, und nur in kleineren Schilderungen, wie in den maîtres mosaîstes, erhebt sie sich wieder. Bei unsern deutschen Dichterinnen ist dieß nun gar der Fall. Diesen kann unsern Zuständen gemäß nur der Idealismus der individuellen Bildung als das höchste Ziel des Sinnens und Trachtens gelten, und auf die Gestaltung dieses Bildungsprocesses im weiblichen Gemüth, auf seine Darstellung innerhalb der socialen Formen kann sich daher auch nur der dichtende Geist des Weibes erstrecken, während dem Manne, der seine Anschauungen und Gedanken dem werdenden Leben der Geschichte entnimmt, die ewig neu sich gebärende Kraft des Völkerlebens sich offenbart, und daraus auch eine stets wechselnde Gestaltung der Charakteristik sich ergibt. Auch bei Henriette v. Paalzow finden wir nun dieselbe Einseitigkeit der Richtung, dieselbe Wiederholung der Gestaltenbildung. Indessen ist diese Metamorphose doch in

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Zitationshilfe: Allgemeine Zeitung. Nr. 109. Augsburg, 18. April 1840, S. 0867. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/augsburgerallgemeine_109_18400418/11>, abgerufen am 26.04.2024.