Auerbach, Berthold: Die Geschichte des Diethelm von Buchenberg. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 7. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 45–268. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Zwanzigstes Kapitel. In der Post lebte Fränz mit ihrer Mutter still und einsam. Früh Morgens gingen sie täglich nach der Kirche, wo die Mutter immer so zerknirscht betete, dann ging es jedesmal hinaus nach dem Gefängniß, um von dem alten Kübler zu erfahren, wie sich der Vater befinde; er gab in der Regel einförmig guten Bescheid, nahm bisweilen auch Geschenke an, ließ sich aber nicht herbei, Diethelm irgend eine Nachricht zu bringen, und so waren Mutter und Tochter von ihm wie durch Meere geschieden. Von dem einzigen Ausgange abgesehen, lebten sie selber wie in Gefangenschaft, die Mutter saß in der Mitte der Stube und spann, obgleich sie immer klagte, daß ihre Spinnfinger wie abgestorben seien. Sie hatte nicht Lust, bei der Arbeit manchmal hinaus zu sehen nach den Vorübergehenden, sie kannte Niemand und wollte Niemand kennen, und oft wenn sie eine Spindel abstellte, klagte sie über die schöne Aussteuer der Fränz und über die tausende von selbstgesponnenen Spindeln, die da mit verbrannt seien. Fränz saß am Fenster und stickte für den Vater sehr bunte Pantoffeln, sie hatte das in der Hauptstadt trefflich gelernt; oft schaute sie aber auch hinaus auf die Straße und machte allerlei Bemerkungen über die Vorübergehenden. Die Mutter verwies ihr das immer mit steter Wiederholung: Wir haben gar nichts zu spötteln über andere Menschen, wir müssen froh sein, wenn man nicht mit Fingern auf uns weis't. Nun verschwieg Fränz meistens ihre Bemerkungen, sie hatte, wie sie glaubte, die unsäglichste Geduld mit ihrer Mutter, die gar keine Zerstreuung wollte und so gewiß als das Tischgebet jedesmal, wenn man sich zum Essen setzte, sagte: Ach Gott! Jetzt muß der Vater allein essen, ich weiß, daß ihm kein Bissen schmeckt, er hat nie was allein essen mögen, ohne dabei zu reden, und wenn er heimkommen ist Zwanzigstes Kapitel. In der Post lebte Fränz mit ihrer Mutter still und einsam. Früh Morgens gingen sie täglich nach der Kirche, wo die Mutter immer so zerknirscht betete, dann ging es jedesmal hinaus nach dem Gefängniß, um von dem alten Kübler zu erfahren, wie sich der Vater befinde; er gab in der Regel einförmig guten Bescheid, nahm bisweilen auch Geschenke an, ließ sich aber nicht herbei, Diethelm irgend eine Nachricht zu bringen, und so waren Mutter und Tochter von ihm wie durch Meere geschieden. Von dem einzigen Ausgange abgesehen, lebten sie selber wie in Gefangenschaft, die Mutter saß in der Mitte der Stube und spann, obgleich sie immer klagte, daß ihre Spinnfinger wie abgestorben seien. Sie hatte nicht Lust, bei der Arbeit manchmal hinaus zu sehen nach den Vorübergehenden, sie kannte Niemand und wollte Niemand kennen, und oft wenn sie eine Spindel abstellte, klagte sie über die schöne Aussteuer der Fränz und über die tausende von selbstgesponnenen Spindeln, die da mit verbrannt seien. Fränz saß am Fenster und stickte für den Vater sehr bunte Pantoffeln, sie hatte das in der Hauptstadt trefflich gelernt; oft schaute sie aber auch hinaus auf die Straße und machte allerlei Bemerkungen über die Vorübergehenden. Die Mutter verwies ihr das immer mit steter Wiederholung: Wir haben gar nichts zu spötteln über andere Menschen, wir müssen froh sein, wenn man nicht mit Fingern auf uns weis't. Nun verschwieg Fränz meistens ihre Bemerkungen, sie hatte, wie sie glaubte, die unsäglichste Geduld mit ihrer Mutter, die gar keine Zerstreuung wollte und so gewiß als das Tischgebet jedesmal, wenn man sich zum Essen setzte, sagte: Ach Gott! Jetzt muß der Vater allein essen, ich weiß, daß ihm kein Bissen schmeckt, er hat nie was allein essen mögen, ohne dabei zu reden, und wenn er heimkommen ist <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="19"> <pb facs="#f0139"/> </div> <div type="chapter" n="20"> <head>Zwanzigstes Kapitel.</head><lb/> <p>In der Post lebte Fränz mit ihrer Mutter still und einsam. Früh Morgens gingen sie täglich nach der Kirche, wo die Mutter immer so zerknirscht betete, dann ging es jedesmal hinaus nach dem Gefängniß, um von dem alten Kübler zu erfahren, wie sich der Vater befinde; er gab in der Regel einförmig guten Bescheid, nahm bisweilen auch Geschenke an, ließ sich aber nicht herbei, Diethelm irgend eine Nachricht zu bringen, und so waren Mutter und Tochter von ihm wie durch Meere geschieden. Von dem einzigen Ausgange abgesehen, lebten sie selber wie in Gefangenschaft, die Mutter saß in der Mitte der Stube und spann, obgleich sie immer klagte, daß ihre Spinnfinger wie abgestorben seien. Sie hatte nicht Lust, bei der Arbeit manchmal hinaus zu sehen nach den Vorübergehenden, sie kannte Niemand und wollte Niemand kennen, und oft wenn sie eine Spindel abstellte, klagte sie über die schöne Aussteuer der Fränz und über die tausende von selbstgesponnenen Spindeln, die da mit verbrannt seien. Fränz saß am Fenster und stickte für den Vater sehr bunte Pantoffeln, sie hatte das in der Hauptstadt trefflich gelernt; oft schaute sie aber auch hinaus auf die Straße und machte allerlei Bemerkungen über die Vorübergehenden. Die Mutter verwies ihr das immer mit steter Wiederholung:</p><lb/> <p>Wir haben gar nichts zu spötteln über andere Menschen, wir müssen froh sein, wenn man nicht mit Fingern auf uns weis't. Nun verschwieg Fränz meistens ihre Bemerkungen, sie hatte, wie sie glaubte, die unsäglichste Geduld mit ihrer Mutter, die gar keine Zerstreuung wollte und so gewiß als das Tischgebet jedesmal, wenn man sich zum Essen setzte, sagte:</p><lb/> <p>Ach Gott! 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Zwanzigstes Kapitel.
In der Post lebte Fränz mit ihrer Mutter still und einsam. Früh Morgens gingen sie täglich nach der Kirche, wo die Mutter immer so zerknirscht betete, dann ging es jedesmal hinaus nach dem Gefängniß, um von dem alten Kübler zu erfahren, wie sich der Vater befinde; er gab in der Regel einförmig guten Bescheid, nahm bisweilen auch Geschenke an, ließ sich aber nicht herbei, Diethelm irgend eine Nachricht zu bringen, und so waren Mutter und Tochter von ihm wie durch Meere geschieden. Von dem einzigen Ausgange abgesehen, lebten sie selber wie in Gefangenschaft, die Mutter saß in der Mitte der Stube und spann, obgleich sie immer klagte, daß ihre Spinnfinger wie abgestorben seien. Sie hatte nicht Lust, bei der Arbeit manchmal hinaus zu sehen nach den Vorübergehenden, sie kannte Niemand und wollte Niemand kennen, und oft wenn sie eine Spindel abstellte, klagte sie über die schöne Aussteuer der Fränz und über die tausende von selbstgesponnenen Spindeln, die da mit verbrannt seien. Fränz saß am Fenster und stickte für den Vater sehr bunte Pantoffeln, sie hatte das in der Hauptstadt trefflich gelernt; oft schaute sie aber auch hinaus auf die Straße und machte allerlei Bemerkungen über die Vorübergehenden. Die Mutter verwies ihr das immer mit steter Wiederholung:
Wir haben gar nichts zu spötteln über andere Menschen, wir müssen froh sein, wenn man nicht mit Fingern auf uns weis't. Nun verschwieg Fränz meistens ihre Bemerkungen, sie hatte, wie sie glaubte, die unsäglichste Geduld mit ihrer Mutter, die gar keine Zerstreuung wollte und so gewiß als das Tischgebet jedesmal, wenn man sich zum Essen setzte, sagte:
Ach Gott! Jetzt muß der Vater allein essen, ich weiß, daß ihm kein Bissen schmeckt, er hat nie was allein essen mögen, ohne dabei zu reden, und wenn er heimkommen ist
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