Schon acht Tage bin ich in der lieblichsten Ge- gend des Rheins, und konnte vor Faulheit, die mir die liebe Sonne einbrennt, keinen Augenblick finden, deinem freundlichen Brief eine Antwort zu geben. -- Wie läßt sich da auch schreiben! Die Allmacht Gottes schaut mir zu jedem Fenster herein und neigt sich an- muthig vor meinem begeisterten Blick.
Dabei bin ich noch mit einem wunderbaren Hell- sehen begabt, was mir die Gedanken einnimmt. Seh' ich einen Wald, so wird mein Geist auch alle Hasen und Hirsche gewahr, die drin herumspringen; und hör' ich die Nachtigall, so weiß ich gleich was der kalte Mond an ihr verschuldet hat.
Gestern Abend ging ich noch spät an den Rhein; ich wagte mich auf einen schmalen Damm, der mitten in den Fluß führt, an dessen Spitze von Wellen um- braus'te Felsklippen hervorragen; ich erreichte mit eini- gen gewagten Sprüngen den aller vordersten, der grade so viel Raum bietet, um trocknen Fußes drauf zu stehen. Die Nebel umtanzten mich; Heere von Raben flogen über mir, sie drehten sich im Kreis, als wollten sie sich aus der Luft herablassen; ich wehrte mich dagegen mit
An Goethe.
Am 20. Mai.
Schon acht Tage bin ich in der lieblichſten Ge- gend des Rheins, und konnte vor Faulheit, die mir die liebe Sonne einbrennt, keinen Augenblick finden, deinem freundlichen Brief eine Antwort zu geben. — Wie läßt ſich da auch ſchreiben! Die Allmacht Gottes ſchaut mir zu jedem Fenſter herein und neigt ſich an- muthig vor meinem begeiſterten Blick.
Dabei bin ich noch mit einem wunderbaren Hell- ſehen begabt, was mir die Gedanken einnimmt. Seh' ich einen Wald, ſo wird mein Geiſt auch alle Haſen und Hirſche gewahr, die drin herumſpringen; und hör' ich die Nachtigall, ſo weiß ich gleich was der kalte Mond an ihr verſchuldet hat.
Geſtern Abend ging ich noch ſpät an den Rhein; ich wagte mich auf einen ſchmalen Damm, der mitten in den Fluß führt, an deſſen Spitze von Wellen um- brauſ'te Felsklippen hervorragen; ich erreichte mit eini- gen gewagten Sprüngen den aller vorderſten, der grade ſo viel Raum bietet, um trocknen Fußes drauf zu ſtehen. Die Nebel umtanzten mich; Heere von Raben flogen über mir, ſie drehten ſich im Kreis, als wollten ſie ſich aus der Luft herablaſſen; ich wehrte mich dagegen mit
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An Goethe.
Am 20. Mai.
Schon acht Tage bin ich in der lieblichſten Ge-
gend des Rheins, und konnte vor Faulheit, die mir
die liebe Sonne einbrennt, keinen Augenblick finden,
deinem freundlichen Brief eine Antwort zu geben. —
Wie läßt ſich da auch ſchreiben! Die Allmacht Gottes
ſchaut mir zu jedem Fenſter herein und neigt ſich an-
muthig vor meinem begeiſterten Blick.
Dabei bin ich noch mit einem wunderbaren Hell-
ſehen begabt, was mir die Gedanken einnimmt. Seh'
ich einen Wald, ſo wird mein Geiſt auch alle Haſen
und Hirſche gewahr, die drin herumſpringen; und hör'
ich die Nachtigall, ſo weiß ich gleich was der kalte
Mond an ihr verſchuldet hat.
Geſtern Abend ging ich noch ſpät an den Rhein;
ich wagte mich auf einen ſchmalen Damm, der mitten
in den Fluß führt, an deſſen Spitze von Wellen um-
brauſ'te Felsklippen hervorragen; ich erreichte mit eini-
gen gewagten Sprüngen den aller vorderſten, der grade
ſo viel Raum bietet, um trocknen Fußes drauf zu ſtehen.
Die Nebel umtanzten mich; Heere von Raben flogen
über mir, ſie drehten ſich im Kreis, als wollten ſie ſich
aus der Luft herablaſſen; ich wehrte mich dagegen mit
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 223. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/255>, abgerufen am 21.11.2024.
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