Warum die Menschen keine Geister sehen? -- Keiner konnt es rathen, ich sagte: weil sie sich vor Gespenster fürchten. -- Wer? -- Die Menschen? -- Nein die Gei- ster. -- Ja so grausamlich kamen mir diese Gesichter vor, und so fremd, und unverständlich, aus denen nichts zu mir sprach wie aus deinen geliebten Zügen, vor de- nen sich die Geister gewiß nicht fürchten; nein es ist deine Schönheit, daß die Geister mit deinen Mienen spielen, und dies ist der unwiederstehliche Reiz für den Liebenden, daß der Geist ewig dein Gesicht umströmt.
Sonntag, ganz allein im einsamen großen Haus alles ist ausgefahren und geritten und gegangen, und deine Mutter ist vor dem Bockenheimer Thor im Gar- ten, weil heute die Birn geschüttelt werden von dem Baum der bei deiner Geburt gepflanzt wurde.
Bettine.
So stand ich einst vor dir, dich anzuschauen Und sagte nichts. Was hätt' ich sagen sollen? Mein ganzes Wesen war in sich vollendet.
(Goethes Werke 2ter Band Seite 11.)
Warum die Menſchen keine Geiſter ſehen? — Keiner konnt es rathen, ich ſagte: weil ſie ſich vor Geſpenſter fürchten. — Wer? — Die Menſchen? — Nein die Gei- ſter. — Ja ſo grauſamlich kamen mir dieſe Geſichter vor, und ſo fremd, und unverſtändlich, aus denen nichts zu mir ſprach wie aus deinen geliebten Zügen, vor de- nen ſich die Geiſter gewiß nicht fürchten; nein es iſt deine Schönheit, daß die Geiſter mit deinen Mienen ſpielen, und dies iſt der unwiederſtehliche Reiz für den Liebenden, daß der Geiſt ewig dein Geſicht umſtrömt.
Sonntag, ganz allein im einſamen großen Haus alles iſt ausgefahren und geritten und gegangen, und deine Mutter iſt vor dem Bockenheimer Thor im Gar- ten, weil heute die Birn geſchüttelt werden von dem Baum der bei deiner Geburt gepflanzt wurde.
Bettine.
So ſtand ich einſt vor dir, dich anzuſchauen Und ſagte nichts. Was hätt' ich ſagen ſollen? Mein ganzes Weſen war in ſich vollendet.
(Goethes Werke 2ter Band Seite 11.)
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Warum die Menſchen keine Geiſter ſehen? — Keiner
konnt es rathen, ich ſagte: weil ſie ſich vor Geſpenſter
fürchten. — Wer? — Die Menſchen? — Nein die Gei-
ſter. — Ja ſo grauſamlich kamen mir dieſe Geſichter
vor, und ſo fremd, und unverſtändlich, aus denen nichts
zu mir ſprach wie aus deinen geliebten Zügen, vor de-
nen ſich die Geiſter gewiß nicht fürchten; nein es iſt
deine Schönheit, daß die Geiſter mit deinen Mienen
ſpielen, und dies iſt der unwiederſtehliche Reiz für den
Liebenden, daß der Geiſt ewig dein Geſicht umſtrömt.
Sonntag, ganz allein im einſamen großen Haus
alles iſt ausgefahren und geritten und gegangen, und
deine Mutter iſt vor dem Bockenheimer Thor im Gar-
ten, weil heute die Birn geſchüttelt werden von dem
Baum der bei deiner Geburt gepflanzt wurde.
Bettine.
*)
*) So ſtand ich einſt vor dir, dich anzuſchauen
Und ſagte nichts. Was hätt' ich ſagen ſollen?
Mein ganzes Weſen war in ſich vollendet.
(Goethes Werke 2ter Band Seite 11.)
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Arnim, Bettina von: Goethe's Briefwechsel mit einem Kinde. Bd. 1. Berlin, 1835, S. 176. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arnimb_goethe01_1835/208>, abgerufen am 22.02.2025.
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