Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Fritz Lemmermayer. Loos. Originalbeitrag. Ich hab' geglüht in meinen Jugendtagen, Die ganze Welt, ich wähnte, sie sei mein; Da siecht' ich hin: ach tausendfält'ge Plagen, Sie warfen hämisch auf mich Stein um Stein. Ich blutete aus tausend tiefen Wunden, Mein Herz schrie auf: ich litt, litt ohne Schuld; Und nie mehr hab' Genesung ich gefunden, Ich hab' verzichtet auf des Himmels Huld. Gelernt hab' ich's in vielen bösen Jahren: Entbehren heißt der Parze strenger Spruch; Im Himmel auch, dem kalten, götterbaren, Ich fürder mir kein Vateraug' mehr such'! Die graue Schwester hat in nächt'gem Flüstern Mir's zugeraunt mit zähnelosem Mund, Und unterm Brausen hundertjähr'ger Rüstern Ward, schaudernd, mir ein tief Geheimniß kund. Seitdem muß schreiten ich erstarrt durch's Leben, Und doch -- o Widerspruch! -- gefühllos nicht -- Ich fürcht' und suche nichts und muß doch beben, Sobald Nachtdunkel durch die Wolken bricht. Wem ward zur Nacht das herbste Leid gegeben, Der lernt entsagen jedem Menschenwahn, Doch sieht Erinnerung vorbei er schweben, Flucht er der Stunde, die's ihm angethan. Fritz Lemmermayer. Loos. Originalbeitrag. Ich hab’ geglüht in meinen Jugendtagen, Die ganze Welt, ich wähnte, ſie ſei mein; Da ſiecht’ ich hin: ach tauſendfält’ge Plagen, Sie warfen hämiſch auf mich Stein um Stein. Ich blutete aus tauſend tiefen Wunden, Mein Herz ſchrie auf: ich litt, litt ohne Schuld; Und nie mehr hab’ Geneſung ich gefunden, Ich hab’ verzichtet auf des Himmels Huld. Gelernt hab’ ich’s in vielen böſen Jahren: Entbehren heißt der Parze ſtrenger Spruch; Im Himmel auch, dem kalten, götterbaren, Ich fürder mir kein Vateraug’ mehr ſuch’! Die graue Schweſter hat in nächt’gem Flüſtern Mir’s zugeraunt mit zähneloſem Mund, Und unterm Brauſen hundertjähr’ger Rüſtern Ward, ſchaudernd, mir ein tief Geheimniß kund. Seitdem muß ſchreiten ich erſtarrt durch’s Leben, Und doch — o Widerſpruch! — gefühllos nicht — Ich fürcht’ und ſuche nichts und muß doch beben, Sobald Nachtdunkel durch die Wolken bricht. Wem ward zur Nacht das herbſte Leid gegeben, Der lernt entſagen jedem Menſchenwahn, Doch ſieht Erinnerung vorbei er ſchweben, Flucht er der Stunde, die’s ihm angethan. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb facs="#f0095" n="77"/> <fw place="top" type="header">Fritz Lemmermayer.</fw><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Loos</hi>.</hi> </head><lb/> <p> <hi rendition="#c">Originalbeitrag.</hi> </p><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Ich hab’ geglüht in meinen Jugendtagen,</l><lb/> <l>Die ganze Welt, ich wähnte, ſie ſei mein;</l><lb/> <l>Da ſiecht’ ich hin: ach tauſendfält’ge Plagen,</l><lb/> <l>Sie warfen hämiſch auf mich Stein um Stein.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Ich blutete aus tauſend tiefen Wunden,</l><lb/> <l>Mein Herz ſchrie auf: ich litt, litt <hi rendition="#g">ohne Schuld</hi>;</l><lb/> <l>Und nie mehr hab’ Geneſung ich gefunden,</l><lb/> <l>Ich hab’ verzichtet auf des Himmels Huld.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Gelernt hab’ ich’s in vielen böſen Jahren:</l><lb/> <l><hi rendition="#g">Entbehren</hi> heißt der Parze ſtrenger Spruch;</l><lb/> <l>Im Himmel auch, dem kalten, götterbaren,</l><lb/> <l>Ich fürder mir kein Vateraug’ mehr ſuch’!</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Die graue Schweſter hat in nächt’gem Flüſtern</l><lb/> <l>Mir’s zugeraunt mit zähneloſem Mund,</l><lb/> <l>Und unterm Brauſen hundertjähr’ger Rüſtern</l><lb/> <l>Ward, ſchaudernd, mir ein tief Geheimniß kund.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Seitdem muß ſchreiten ich erſtarrt durch’s Leben,</l><lb/> <l>Und doch — o Widerſpruch! — gefühllos nicht —</l><lb/> <l>Ich fürcht’ und ſuche nichts und muß doch beben,</l><lb/> <l>Sobald Nachtdunkel durch die Wolken bricht.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Wem ward zur Nacht das herbſte Leid gegeben,</l><lb/> <l>Der lernt entſagen jedem Menſchenwahn,</l><lb/> <l>Doch ſieht Erinnerung vorbei er ſchweben,</l><lb/> <l>Flucht er der Stunde, die’s ihm angethan.</l> </lg> </lg> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> </div> </body> </text> </TEI> [77/0095]
Fritz Lemmermayer.
Loos.
Originalbeitrag.
Ich hab’ geglüht in meinen Jugendtagen,
Die ganze Welt, ich wähnte, ſie ſei mein;
Da ſiecht’ ich hin: ach tauſendfält’ge Plagen,
Sie warfen hämiſch auf mich Stein um Stein.
Ich blutete aus tauſend tiefen Wunden,
Mein Herz ſchrie auf: ich litt, litt ohne Schuld;
Und nie mehr hab’ Geneſung ich gefunden,
Ich hab’ verzichtet auf des Himmels Huld.
Gelernt hab’ ich’s in vielen böſen Jahren:
Entbehren heißt der Parze ſtrenger Spruch;
Im Himmel auch, dem kalten, götterbaren,
Ich fürder mir kein Vateraug’ mehr ſuch’!
Die graue Schweſter hat in nächt’gem Flüſtern
Mir’s zugeraunt mit zähneloſem Mund,
Und unterm Brauſen hundertjähr’ger Rüſtern
Ward, ſchaudernd, mir ein tief Geheimniß kund.
Seitdem muß ſchreiten ich erſtarrt durch’s Leben,
Und doch — o Widerſpruch! — gefühllos nicht —
Ich fürcht’ und ſuche nichts und muß doch beben,
Sobald Nachtdunkel durch die Wolken bricht.
Wem ward zur Nacht das herbſte Leid gegeben,
Der lernt entſagen jedem Menſchenwahn,
Doch ſieht Erinnerung vorbei er ſchweben,
Flucht er der Stunde, die’s ihm angethan.
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