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Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].

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Carl Bleibtreu.

Seit Gott den ersten Stern erschuf -- wie lange!
Doch seine Hand liegt noch auf deinem Haupt,
Als wär' es gestern. Letzte Offenbarung! --
Du Silberstrom, der aus dem See der Urkraft
Mit süßem Lachen bricht, wie endest du?
Der Jugendleidenschaft Kaskadenstrudel
Furcht deiner ebnen Fläche glatte Wange,
Mit frischen Blasen, Grübchen gleich, besät,
Zerwühlt dein Bett, trübt deinen klaren Spiegel,
Und dann, befleckt von ungesundem Schutt
Und Schmutz, den Tagsgeschäfte auf dich häufen,
Von manchem Fels des Mißgeschicks beengt,
Strömst düster du bergab durch vielgewundne
Gebirgeskammern oder sumpfige Moore,
Bis du zuletzt mit träger fauler Ader
Zum unbekannten Weltmeer seicht und siech
Dahinschleichst: jener allgemeinen Mündung,
Zu der selbst Gießbach, Katarakt, Gebirgsstrom --
Begeistrung, Genius, Thatkraft -- bald sich wälzen.



Dichtermission.
Die Phantasie ist, Wahrheit, deine Nahrung.
Sie ist beständ'ge Gottesoffenbarung.
Die Träumer sind Propheten. Was sie schauen,
Wird in Jahrhunderten von selbst sich bauen.


Gleich wie der Beduine sich seinem Roß vermählt,
Sein Flügelroß der Dichter als einz'ge Gattin wählt.
Der Denker jage einsam wie der Löwe
Die Schakals und die Büffel vor sich her!
Wie eine ruhelose Möve,
Vorm Sturm der Zukunft fliege er!


Die Poesie gleicht dem Achillesspeer,
Der jede Wunde, die er schlug vorher,
Mit seinem Stahl auch einzig konnte heilen.
Halb Balsam ist die Poesie, halb Gift.
Wer ihre Kelche leert, muß wie es trifft,
Gift oder Balsam, Beides mit ihr theilen.

Carl Bleibtreu.

Seit Gott den erſten Stern erſchuf — wie lange!
Doch ſeine Hand liegt noch auf deinem Haupt,
Als wär’ es geſtern. Letzte Offenbarung! —
Du Silberſtrom, der aus dem See der Urkraft
Mit ſüßem Lachen bricht, wie endeſt du?
Der Jugendleidenſchaft Kaskadenſtrudel
Furcht deiner ebnen Fläche glatte Wange,
Mit friſchen Blaſen, Grübchen gleich, beſät,
Zerwühlt dein Bett, trübt deinen klaren Spiegel,
Und dann, befleckt von ungeſundem Schutt
Und Schmutz, den Tagsgeſchäfte auf dich häufen,
Von manchem Fels des Mißgeſchicks beengt,
Strömſt düſter du bergab durch vielgewundne
Gebirgeskammern oder ſumpfige Moore,
Bis du zuletzt mit träger fauler Ader
Zum unbekannten Weltmeer ſeicht und ſiech
Dahinſchleichſt: jener allgemeinen Mündung,
Zu der ſelbſt Gießbach, Katarakt, Gebirgsſtrom —
Begeiſtrung, Genius, Thatkraft — bald ſich wälzen.



Dichtermiſſion.
Die Phantaſie iſt, Wahrheit, deine Nahrung.
Sie iſt beſtänd’ge Gottesoffenbarung.
Die Träumer ſind Propheten. Was ſie ſchauen,
Wird in Jahrhunderten von ſelbſt ſich bauen.


Gleich wie der Beduine ſich ſeinem Roß vermählt,
Sein Flügelroß der Dichter als einz’ge Gattin wählt.
Der Denker jage einſam wie der Löwe
Die Schakals und die Büffel vor ſich her!
Wie eine ruheloſe Möve,
Vorm Sturm der Zukunft fliege er!


Die Poeſie gleicht dem Achillesſpeer,
Der jede Wunde, die er ſchlug vorher,
Mit ſeinem Stahl auch einzig konnte heilen.
Halb Balſam iſt die Poeſie, halb Gift.
Wer ihre Kelche leert, muß wie es trifft,
Gift oder Balſam, Beides mit ihr theilen.

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[11/0333] Carl Bleibtreu. Seit Gott den erſten Stern erſchuf — wie lange! Doch ſeine Hand liegt noch auf deinem Haupt, Als wär’ es geſtern. Letzte Offenbarung! — Du Silberſtrom, der aus dem See der Urkraft Mit ſüßem Lachen bricht, wie endeſt du? Der Jugendleidenſchaft Kaskadenſtrudel Furcht deiner ebnen Fläche glatte Wange, Mit friſchen Blaſen, Grübchen gleich, beſät, Zerwühlt dein Bett, trübt deinen klaren Spiegel, Und dann, befleckt von ungeſundem Schutt Und Schmutz, den Tagsgeſchäfte auf dich häufen, Von manchem Fels des Mißgeſchicks beengt, Strömſt düſter du bergab durch vielgewundne Gebirgeskammern oder ſumpfige Moore, Bis du zuletzt mit träger fauler Ader Zum unbekannten Weltmeer ſeicht und ſiech Dahinſchleichſt: jener allgemeinen Mündung, Zu der ſelbſt Gießbach, Katarakt, Gebirgsſtrom — Begeiſtrung, Genius, Thatkraft — bald ſich wälzen. Dichtermiſſion. Die Phantaſie iſt, Wahrheit, deine Nahrung. Sie iſt beſtänd’ge Gottesoffenbarung. Die Träumer ſind Propheten. Was ſie ſchauen, Wird in Jahrhunderten von ſelbſt ſich bauen. Gleich wie der Beduine ſich ſeinem Roß vermählt, Sein Flügelroß der Dichter als einz’ge Gattin wählt. Der Denker jage einſam wie der Löwe Die Schakals und die Büffel vor ſich her! Wie eine ruheloſe Möve, Vorm Sturm der Zukunft fliege er! Die Poeſie gleicht dem Achillesſpeer, Der jede Wunde, die er ſchlug vorher, Mit ſeinem Stahl auch einzig konnte heilen. Halb Balſam iſt die Poeſie, halb Gift. Wer ihre Kelche leert, muß wie es trifft, Gift oder Balſam, Beides mit ihr theilen.

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Zitationshilfe: Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885], S. 11. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/333>, abgerufen am 21.11.2024.