Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Ernst von Wildenbruch. Um den Sitz der seel'gen Götter schwang das Lied die Flügel her, von der Priamiden Sterben lauschten sie der großen Mähr. Von dem Sessel sprang Kronion, "füll' den Becher, Hebe, mir. diesen Becher, diese Spende bringe ich, Homeros, dir! Der du mehr vermagst als Götter, Todte rufst aus Grabes Nacht, der du Ilion, das geliebte, wieder mir zurück gebracht!" Und es schwangen sich die Becher klirrend in der Götter Hand, rollend zog der heil'ge Donner über das Hellenen-Land; Bebend neigten sich die Lande und die Völker weit und breit -- und sie ahnten, heilig schauernd, eigene Unsterblichkeit. Das Hexenlied. Zu Hersfeld im Kloster der Prior sprach: "Der Bruder Medardus ward alt und schwach. Ich glaube, sein Stündlein ist heute gekommen -- Geh, Bruder Beicht'ger, hinein zu dem Frommen, Vernimm das Geständniß von seinen Sünden: Zwar weiß ich, Du wirst nicht viele finden. Er dienet dem Kloster heut fünfzig Jahr', Im Klosterschatten verbleichte sein Haar, Er hat gefastet, er hat sich kasteit, Wohl vorbereitet zur Seligkeit, Er ist der heiligste von uns Allen Und wird dem Allmächtigen wohlgefallen." Der Beichtiger schlug an Medardus' Thor -- Von innen tönte kein Ruf hervor, Der Beichtiger trat wohl über die Schwelle Und schritt hinein in Medardus' Zelle -- Ernſt von Wildenbruch. Um den Sitz der ſeel’gen Götter ſchwang das Lied die Flügel her, von der Priamiden Sterben lauſchten ſie der großen Mähr. Von dem Seſſel ſprang Kronion, „füll’ den Becher, Hebe, mir. dieſen Becher, dieſe Spende bringe ich, Homeros, dir! Der du mehr vermagſt als Götter, Todte rufſt aus Grabes Nacht, der du Ilion, das geliebte, wieder mir zurück gebracht!“ Und es ſchwangen ſich die Becher klirrend in der Götter Hand, rollend zog der heil’ge Donner über das Hellenen-Land; Bebend neigten ſich die Lande und die Völker weit und breit — und ſie ahnten, heilig ſchauernd, eigene Unſterblichkeit. Das Hexenlied. Zu Hersfeld im Kloſter der Prior ſprach: „Der Bruder Medardus ward alt und ſchwach. Ich glaube, ſein Stündlein iſt heute gekommen — Geh, Bruder Beicht’ger, hinein zu dem Frommen, Vernimm das Geſtändniß von ſeinen Sünden: Zwar weiß ich, Du wirſt nicht viele finden. Er dienet dem Kloſter heut fünfzig Jahr’, Im Kloſterſchatten verbleichte ſein Haar, Er hat gefaſtet, er hat ſich kaſteit, Wohl vorbereitet zur Seligkeit, Er iſt der heiligſte von uns Allen Und wird dem Allmächtigen wohlgefallen.“ Der Beichtiger ſchlug an Medardus’ Thor — Von innen tönte kein Ruf hervor, Der Beichtiger trat wohl über die Schwelle Und ſchritt hinein in Medardus’ Zelle — <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <lg type="poem"> <lg n="1"> <pb facs="#f0263" n="245"/> <fw place="top" type="header">Ernſt von Wildenbruch.</fw><lb/> <l>Um den Sitz der ſeel’gen Götter</l><lb/> <l>ſchwang das Lied die Flügel her,</l><lb/> <l>von der Priamiden Sterben</l><lb/> <l>lauſchten ſie der großen Mähr.</l><lb/> <l>Von dem Seſſel ſprang Kronion,</l><lb/> <l>„füll’ den Becher, Hebe, mir.</l><lb/> <l>dieſen Becher, dieſe Spende</l><lb/> <l>bringe ich, Homeros, dir!</l><lb/> <l>Der du mehr vermagſt als Götter,</l><lb/> <l>Todte rufſt aus Grabes Nacht,</l><lb/> <l>der du Ilion, das geliebte,</l><lb/> <l>wieder mir zurück gebracht!“</l><lb/> <l>Und es ſchwangen ſich die Becher</l><lb/> <l>klirrend in der Götter Hand,</l><lb/> <l>rollend zog der heil’ge Donner</l><lb/> <l>über das Hellenen-Land;</l><lb/> <l>Bebend neigten ſich die Lande</l><lb/> <l>und die Völker weit und breit —</l><lb/> <l>und ſie ahnten, heilig ſchauernd,</l><lb/> <l>eigene Unſterblichkeit.</l> </lg> </lg> </div><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Das Hexenlied.</hi> </head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Zu Hersfeld im Kloſter der Prior ſprach:</l><lb/> <l>„Der Bruder Medardus ward alt und ſchwach.</l><lb/> <l>Ich glaube, ſein Stündlein iſt heute gekommen —</l><lb/> <l>Geh, Bruder Beicht’ger, hinein zu dem Frommen,</l><lb/> <l>Vernimm das Geſtändniß von ſeinen Sünden:</l><lb/> <l>Zwar weiß ich, Du wirſt nicht viele finden.</l><lb/> <l>Er dienet dem Kloſter heut fünfzig Jahr’,</l><lb/> <l>Im Kloſterſchatten verbleichte ſein Haar,</l><lb/> <l>Er hat gefaſtet, er hat ſich kaſteit,</l><lb/> <l>Wohl vorbereitet zur Seligkeit,</l><lb/> <l>Er iſt der heiligſte von uns Allen</l><lb/> <l>Und wird dem Allmächtigen wohlgefallen.“</l><lb/> <l>Der Beichtiger ſchlug an Medardus’ Thor —</l><lb/> <l>Von innen tönte kein Ruf hervor,</l><lb/> <l>Der Beichtiger trat wohl über die Schwelle</l><lb/> <l>Und ſchritt hinein in Medardus’ Zelle —</l><lb/> </lg> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [245/0263]
Ernſt von Wildenbruch.
Um den Sitz der ſeel’gen Götter
ſchwang das Lied die Flügel her,
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lauſchten ſie der großen Mähr.
Von dem Seſſel ſprang Kronion,
„füll’ den Becher, Hebe, mir.
dieſen Becher, dieſe Spende
bringe ich, Homeros, dir!
Der du mehr vermagſt als Götter,
Todte rufſt aus Grabes Nacht,
der du Ilion, das geliebte,
wieder mir zurück gebracht!“
Und es ſchwangen ſich die Becher
klirrend in der Götter Hand,
rollend zog der heil’ge Donner
über das Hellenen-Land;
Bebend neigten ſich die Lande
und die Völker weit und breit —
und ſie ahnten, heilig ſchauernd,
eigene Unſterblichkeit.
Das Hexenlied.
Zu Hersfeld im Kloſter der Prior ſprach:
„Der Bruder Medardus ward alt und ſchwach.
Ich glaube, ſein Stündlein iſt heute gekommen —
Geh, Bruder Beicht’ger, hinein zu dem Frommen,
Vernimm das Geſtändniß von ſeinen Sünden:
Zwar weiß ich, Du wirſt nicht viele finden.
Er dienet dem Kloſter heut fünfzig Jahr’,
Im Kloſterſchatten verbleichte ſein Haar,
Er hat gefaſtet, er hat ſich kaſteit,
Wohl vorbereitet zur Seligkeit,
Er iſt der heiligſte von uns Allen
Und wird dem Allmächtigen wohlgefallen.“
Der Beichtiger ſchlug an Medardus’ Thor —
Von innen tönte kein Ruf hervor,
Der Beichtiger trat wohl über die Schwelle
Und ſchritt hinein in Medardus’ Zelle —
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