Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].

Bild:
<< vorherige Seite
Richard Kralik.
Erwachen.
Einen weißen Federflaum
Fand am Fenster ich den Morgen,
Als der Tag aus wirrem Traum
Mich erweckt zu süßen Sorgen.
Und ich blick' erstaunt hinauf
An den frischen Morgenhimmel,
Sehe dort in leisem Lauf
Ziehn der Wolken leicht Gewimmel.
Ja, sie ziehn in breitem Zug
Zwischen mir und jener Gegend. --
Ist es Wahrheit? Ist es Trug?
Sind's nicht Schwäne flügelregend?
Ist mein Liebchen gar vielleicht
Solch ein heimlich Zauberwesen,
Das als Schwan die Luft durchstreicht,
Wie in Märchen ich gelesen?
Schön in menschlicher Gestalt,
Hat sie traut besucht mich gestern,
Nachts in Zauberbanns Gewalt
Schwärmt sie mit den Schwanenschwestern.
Fliegt bis an mein Fensterbrett,
Putzt das weiße Schwangefieder,
Während einsam ich im Bett,
Wälze sonder Ruh die Glieder.


Der nur kann sich wissend nennen ...

Originalbeitrag.

Der nur kann sich wissend nennen,
Der die Thorheit hat erkoren.
Der nur kann die Freiheit kennen,
Der die Freiheit hat verloren.
Der kann seine Macht nur ahnden,
Der zu spät, zu spät gefunden,
Daß er sich in eignen Banden,
Ach, durch eigne Macht gebunden.



15*
Richard Kralik.
Erwachen.
Einen weißen Federflaum
Fand am Fenſter ich den Morgen,
Als der Tag aus wirrem Traum
Mich erweckt zu ſüßen Sorgen.
Und ich blick’ erſtaunt hinauf
An den friſchen Morgenhimmel,
Sehe dort in leiſem Lauf
Ziehn der Wolken leicht Gewimmel.
Ja, ſie ziehn in breitem Zug
Zwiſchen mir und jener Gegend. —
Iſt es Wahrheit? Iſt es Trug?
Sind’s nicht Schwäne flügelregend?
Iſt mein Liebchen gar vielleicht
Solch ein heimlich Zauberweſen,
Das als Schwan die Luft durchſtreicht,
Wie in Märchen ich geleſen?
Schön in menſchlicher Geſtalt,
Hat ſie traut beſucht mich geſtern,
Nachts in Zauberbanns Gewalt
Schwärmt ſie mit den Schwanenſchweſtern.
Fliegt bis an mein Fenſterbrett,
Putzt das weiße Schwangefieder,
Während einſam ich im Bett,
Wälze ſonder Ruh die Glieder.


Der nur kann ſich wiſſend nennen …

Originalbeitrag.

Der nur kann ſich wiſſend nennen,
Der die Thorheit hat erkoren.
Der nur kann die Freiheit kennen,
Der die Freiheit hat verloren.
Der kann ſeine Macht nur ahnden,
Der zu ſpät, zu ſpät gefunden,
Daß er ſich in eignen Banden,
Ach, durch eigne Macht gebunden.



15*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0245" n="227"/>
        <fw place="top" type="header">Richard Kralik.</fw><lb/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Erwachen.</hi> </head><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Einen weißen Federflaum</l><lb/>
              <l>Fand am Fen&#x017F;ter ich den Morgen,</l><lb/>
              <l>Als der Tag aus wirrem Traum</l><lb/>
              <l>Mich erweckt zu &#x017F;üßen Sorgen.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Und ich blick&#x2019; er&#x017F;taunt hinauf</l><lb/>
              <l>An den fri&#x017F;chen Morgenhimmel,</l><lb/>
              <l>Sehe dort in lei&#x017F;em Lauf</l><lb/>
              <l>Ziehn der Wolken leicht Gewimmel.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="3">
              <l>Ja, &#x017F;ie ziehn in breitem Zug</l><lb/>
              <l>Zwi&#x017F;chen mir und jener Gegend. &#x2014;</l><lb/>
              <l>I&#x017F;t es Wahrheit? I&#x017F;t es Trug?</l><lb/>
              <l>Sind&#x2019;s nicht Schwäne flügelregend?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="4">
              <l>I&#x017F;t mein Liebchen gar vielleicht</l><lb/>
              <l>Solch ein heimlich Zauberwe&#x017F;en,</l><lb/>
              <l>Das als Schwan die Luft durch&#x017F;treicht,</l><lb/>
              <l>Wie in Märchen ich gele&#x017F;en?</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="5">
              <l>Schön in men&#x017F;chlicher Ge&#x017F;talt,</l><lb/>
              <l>Hat &#x017F;ie traut be&#x017F;ucht mich ge&#x017F;tern,</l><lb/>
              <l>Nachts in Zauberbanns Gewalt</l><lb/>
              <l>Schwärmt &#x017F;ie mit den Schwanen&#x017F;chwe&#x017F;tern.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="6">
              <l>Fliegt bis an mein Fen&#x017F;terbrett,</l><lb/>
              <l>Putzt das weiße Schwangefieder,</l><lb/>
              <l>Während ein&#x017F;am ich im Bett,</l><lb/>
              <l>Wälze &#x017F;onder Ruh die Glieder.</l>
            </lg>
          </lg>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#b">Der nur kann &#x017F;ich wi&#x017F;&#x017F;end nennen &#x2026;</hi> </head><lb/>
          <p> <hi rendition="#c">Originalbeitrag.</hi> </p><lb/>
          <lg type="poem">
            <lg n="1">
              <l>Der nur kann &#x017F;ich wi&#x017F;&#x017F;end nennen,</l><lb/>
              <l>Der die Thorheit hat erkoren.</l><lb/>
              <l>Der nur kann die Freiheit kennen,</l><lb/>
              <l>Der die Freiheit hat verloren.</l>
            </lg><lb/>
            <lg n="2">
              <l>Der kann &#x017F;eine Macht nur ahnden,</l><lb/>
              <l>Der zu &#x017F;pät, zu &#x017F;pät gefunden,</l><lb/>
              <l>Daß er &#x017F;ich in eignen Banden,</l><lb/>
              <l>Ach, durch eigne Macht gebunden.</l>
            </lg>
          </lg>
        </div>
      </div><lb/>
      <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
      <fw place="bottom" type="sig">15*</fw><lb/>
    </body>
  </text>
</TEI>
[227/0245] Richard Kralik. Erwachen. Einen weißen Federflaum Fand am Fenſter ich den Morgen, Als der Tag aus wirrem Traum Mich erweckt zu ſüßen Sorgen. Und ich blick’ erſtaunt hinauf An den friſchen Morgenhimmel, Sehe dort in leiſem Lauf Ziehn der Wolken leicht Gewimmel. Ja, ſie ziehn in breitem Zug Zwiſchen mir und jener Gegend. — Iſt es Wahrheit? Iſt es Trug? Sind’s nicht Schwäne flügelregend? Iſt mein Liebchen gar vielleicht Solch ein heimlich Zauberweſen, Das als Schwan die Luft durchſtreicht, Wie in Märchen ich geleſen? Schön in menſchlicher Geſtalt, Hat ſie traut beſucht mich geſtern, Nachts in Zauberbanns Gewalt Schwärmt ſie mit den Schwanenſchweſtern. Fliegt bis an mein Fenſterbrett, Putzt das weiße Schwangefieder, Während einſam ich im Bett, Wälze ſonder Ruh die Glieder. Der nur kann ſich wiſſend nennen … Originalbeitrag. Der nur kann ſich wiſſend nennen, Der die Thorheit hat erkoren. Der nur kann die Freiheit kennen, Der die Freiheit hat verloren. Der kann ſeine Macht nur ahnden, Der zu ſpät, zu ſpät gefunden, Daß er ſich in eignen Banden, Ach, durch eigne Macht gebunden. 15*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/245
Zitationshilfe: Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885], S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/245>, abgerufen am 22.12.2024.