Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885].Richard Kralik. Zu spät. Nie, arme kleine Knospe, wird Dein Kelch der Sonne sich erschließen, Du hast dich in die Welt verirrt Zur Zeit, da Blumen nicht mehr sprießen. Warum hast du so lang verweilt? Der Sommer war ja längst gekommen. Wenn dich der Winter nun ereilt, Gleich ist dir jede Lust genommen. Ach, ich beneide deinen Traum, Den du im Erdenschoß geträumet. Dich weckte all der Jubel kaum Und immer hast du noch gesäumet. Sieh um dich her die Schwestern weich Vom Strahl des Tages schnell getroffen, Sie neigten sich der Liebe gleich; Bald waren ihre Kelche offen. Sie hauchten ihre Düfte aus, Von Lieb und Demuth hold bezwungen, Dir haben in der Mutter Haus Umsonst die Vögelein gesungen. Sie gaben ihre Blüthen hin -- Der Wind entführte ihre Blüthen; Du thatest wohl in herbem Sinn Der eignen Blüthe neidisch hüten. Nun stehen sie entblättert da, Getödtet durch zu heißes Lieben, Nur dir kam nie die Liebe nah, Nur du bist ungeküßt geblieben. Und sieh! es lockte dich im Hag Doch alle Tage gleiche Wonne, Die Vöglein sangen jeden Tag Und jeden Tag ging auf die Sonne. Richard Kralik. Zu ſpät. Nie, arme kleine Knoſpe, wird Dein Kelch der Sonne ſich erſchließen, Du haſt dich in die Welt verirrt Zur Zeit, da Blumen nicht mehr ſprießen. Warum haſt du ſo lang verweilt? Der Sommer war ja längſt gekommen. Wenn dich der Winter nun ereilt, Gleich iſt dir jede Luſt genommen. Ach, ich beneide deinen Traum, Den du im Erdenſchoß geträumet. Dich weckte all der Jubel kaum Und immer haſt du noch geſäumet. Sieh um dich her die Schweſtern weich Vom Strahl des Tages ſchnell getroffen, Sie neigten ſich der Liebe gleich; Bald waren ihre Kelche offen. Sie hauchten ihre Düfte aus, Von Lieb und Demuth hold bezwungen, Dir haben in der Mutter Haus Umſonſt die Vögelein geſungen. Sie gaben ihre Blüthen hin — Der Wind entführte ihre Blüthen; Du thateſt wohl in herbem Sinn Der eignen Blüthe neidiſch hüten. Nun ſtehen ſie entblättert da, Getödtet durch zu heißes Lieben, Nur dir kam nie die Liebe nah, Nur du biſt ungeküßt geblieben. Und ſieh! es lockte dich im Hag Doch alle Tage gleiche Wonne, Die Vöglein ſangen jeden Tag Und jeden Tag ging auf die Sonne. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <pb n="226" facs="#f0244"/> <fw type="header" place="top">Richard Kralik.</fw><lb/> <div n="2"> <head> <hi rendition="#b">Zu ſpät.</hi> </head><lb/> <lg type="poem"> <lg n="1"> <l>Nie, arme kleine Knoſpe, wird</l><lb/> <l>Dein Kelch der Sonne ſich erſchließen,</l><lb/> <l>Du haſt dich in die Welt verirrt</l><lb/> <l>Zur Zeit, da Blumen nicht mehr ſprießen.</l> </lg><lb/> <lg n="2"> <l>Warum haſt du ſo lang verweilt?</l><lb/> <l>Der Sommer war ja längſt gekommen.</l><lb/> <l>Wenn dich der Winter nun ereilt,</l><lb/> <l>Gleich iſt dir jede Luſt genommen.</l> </lg><lb/> <lg n="3"> <l>Ach, ich beneide deinen Traum,</l><lb/> <l>Den du im Erdenſchoß geträumet.</l><lb/> <l>Dich weckte all der Jubel kaum</l><lb/> <l>Und immer haſt du noch geſäumet.</l> </lg><lb/> <lg n="4"> <l>Sieh um dich her die Schweſtern weich</l><lb/> <l>Vom Strahl des Tages ſchnell getroffen,</l><lb/> <l>Sie neigten ſich der Liebe gleich;</l><lb/> <l>Bald waren ihre Kelche offen.</l> </lg><lb/> <lg n="5"> <l>Sie hauchten ihre Düfte aus,</l><lb/> <l>Von Lieb und Demuth hold bezwungen,</l><lb/> <l>Dir haben in der Mutter Haus</l><lb/> <l>Umſonſt die Vögelein geſungen.</l> </lg><lb/> <lg n="6"> <l>Sie gaben ihre Blüthen hin —</l><lb/> <l>Der Wind entführte ihre Blüthen;</l><lb/> <l>Du thateſt wohl in herbem Sinn</l><lb/> <l>Der eignen Blüthe neidiſch hüten.</l> </lg><lb/> <lg n="7"> <l>Nun ſtehen ſie entblättert da,</l><lb/> <l>Getödtet durch zu heißes Lieben,</l><lb/> <l>Nur dir kam nie die Liebe nah,</l><lb/> <l>Nur du biſt ungeküßt geblieben.</l> </lg><lb/> <lg n="8"> <l>Und ſieh! es lockte dich im Hag</l><lb/> <l>Doch alle Tage gleiche Wonne,</l><lb/> <l>Die Vöglein ſangen jeden Tag</l><lb/> <l>Und jeden Tag ging auf die Sonne.</l> </lg> </lg> </div><lb/> <milestone unit="section" rendition="#hr"/> </div> </body> </text> </TEI> [226/0244]
Richard Kralik.
Zu ſpät.
Nie, arme kleine Knoſpe, wird
Dein Kelch der Sonne ſich erſchließen,
Du haſt dich in die Welt verirrt
Zur Zeit, da Blumen nicht mehr ſprießen.
Warum haſt du ſo lang verweilt?
Der Sommer war ja längſt gekommen.
Wenn dich der Winter nun ereilt,
Gleich iſt dir jede Luſt genommen.
Ach, ich beneide deinen Traum,
Den du im Erdenſchoß geträumet.
Dich weckte all der Jubel kaum
Und immer haſt du noch geſäumet.
Sieh um dich her die Schweſtern weich
Vom Strahl des Tages ſchnell getroffen,
Sie neigten ſich der Liebe gleich;
Bald waren ihre Kelche offen.
Sie hauchten ihre Düfte aus,
Von Lieb und Demuth hold bezwungen,
Dir haben in der Mutter Haus
Umſonſt die Vögelein geſungen.
Sie gaben ihre Blüthen hin —
Der Wind entführte ihre Blüthen;
Du thateſt wohl in herbem Sinn
Der eignen Blüthe neidiſch hüten.
Nun ſtehen ſie entblättert da,
Getödtet durch zu heißes Lieben,
Nur dir kam nie die Liebe nah,
Nur du biſt ungeküßt geblieben.
Und ſieh! es lockte dich im Hag
Doch alle Tage gleiche Wonne,
Die Vöglein ſangen jeden Tag
Und jeden Tag ging auf die Sonne.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/244 |
Zitationshilfe: | Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885], S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/244>, abgerufen am 01.03.2025. |