Freudigen Herzens spreche ich der folgenden Sammlung jüngster Lyrik ein Wort des Geleites. Freilich -- sie muß und wird für sich selbst sprechen, doch ist es in diesem Falle nicht nur nicht überflüssig, sondern sogar ge- boten, Wesen und Absicht des Dargebrachten etwas eingehender zu be- leuchten. Denn nicht eine neue Anthologie nach tausend anderen schleudern wir in die Welt, die ebenso, wie jene, der buchhändlerischen Speculation dienen und sich vielleicht nur durch Titel und Auswahl von ihren Vorgän- gerinnen unterscheiden würde, nein, unser Zweck ist ein anderer, höherer, rein ideeller. Die "Dichtercharaktere" sind -- sagen wir es kurz her- aus -- bestimmt, direkt in die Entwickelung der modernen deutschen Lyrik einzugreifen. Was das heißt, sei für weitere Kreise kurz erörtert.
Moderne deutsche Lyrik -- wer nennt mir drei andere Worte unserer Sprache, bei denen eine gleich tiefe Kluft gähnt zwischen dem wahren Sinne derselben und dem Dinge, zu dessen Bezeichnung sie herabgesunken sind? In Wahrheit, es ist ein trauriges Bekenntniß, aber wir haben in den letzten Dezennien weder eine moderne, noch eine deutsche, noch überhaupt eine Lyrik besessen, die dieses heiligen Namens der ursprünglichsten, elementarsten und reinsten aller Dichtungsarten nur entfernt würdig wäre. Wie auf allen übrigen Gebieten der Poesie ohne Ausnahme hat auch auf dem der Lyrik der Dilettantismus jeder Form das unrühmliche Scepter erobert. Und zwar hat der feine, geschickte und gebildete Dilettantismus wirklich oligarchisch geherrscht und thut es noch, während sich sein gröberer, ungeschickter und ungeschliffener Mitsproß mehr denn je raupenartig fortgepflanzt hat und unheimlich wimmelnd das ganze liebe deutsche Land von Morgen bis gen Abend unsicher macht. Der Dilettantismus erster Sorte ist der wirklich gefährliche, denn weil er herrscht und sich für wahre Kunst ausgiebt, verbildet er den Geschmack des Publikums, das ihm blind dient, und untergräbt das Verständniß echter
Die neue Lyrik. Einleitung von Karl Henckell.
Freudigen Herzens ſpreche ich der folgenden Sammlung jüngſter Lyrik ein Wort des Geleites. Freilich — ſie muß und wird für ſich ſelbſt ſprechen, doch iſt es in dieſem Falle nicht nur nicht überflüſſig, ſondern ſogar ge- boten, Weſen und Abſicht des Dargebrachten etwas eingehender zu be- leuchten. Denn nicht eine neue Anthologie nach tauſend anderen ſchleudern wir in die Welt, die ebenſo, wie jene, der buchhändleriſchen Speculation dienen und ſich vielleicht nur durch Titel und Auswahl von ihren Vorgän- gerinnen unterſcheiden würde, nein, unſer Zweck iſt ein anderer, höherer, rein ideeller. Die „Dichtercharaktere“ ſind — ſagen wir es kurz her- aus — beſtimmt, direkt in die Entwickelung der modernen deutſchen Lyrik einzugreifen. Was das heißt, ſei für weitere Kreiſe kurz erörtert.
Moderne deutſche Lyrik — wer nennt mir drei andere Worte unſerer Sprache, bei denen eine gleich tiefe Kluft gähnt zwiſchen dem wahren Sinne derſelben und dem Dinge, zu deſſen Bezeichnung ſie herabgeſunken ſind? In Wahrheit, es iſt ein trauriges Bekenntniß, aber wir haben in den letzten Dezennien weder eine moderne, noch eine deutſche, noch überhaupt eine Lyrik beſeſſen, die dieſes heiligen Namens der urſprünglichſten, elementarſten und reinſten aller Dichtungsarten nur entfernt würdig wäre. Wie auf allen übrigen Gebieten der Poeſie ohne Ausnahme hat auch auf dem der Lyrik der Dilettantismus jeder Form das unrühmliche Scepter erobert. Und zwar hat der feine, geſchickte und gebildete Dilettantismus wirklich oligarchiſch geherrſcht und thut es noch, während ſich ſein gröberer, ungeſchickter und ungeſchliffener Mitſproß mehr denn je raupenartig fortgepflanzt hat und unheimlich wimmelnd das ganze liebe deutſche Land von Morgen bis gen Abend unſicher macht. Der Dilettantismus erſter Sorte iſt der wirklich gefährliche, denn weil er herrſcht und ſich für wahre Kunſt ausgiebt, verbildet er den Geſchmack des Publikums, das ihm blind dient, und untergräbt das Verſtändniß echter
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Einleitung von Karl Henckell.
Freudigen Herzens ſpreche ich der folgenden Sammlung jüngſter Lyrik
ein Wort des Geleites. Freilich — ſie muß und wird für ſich ſelbſt ſprechen,
doch iſt es in dieſem Falle nicht nur nicht überflüſſig, ſondern ſogar ge-
boten, Weſen und Abſicht des Dargebrachten etwas eingehender zu be-
leuchten. Denn nicht eine neue Anthologie nach tauſend anderen ſchleudern
wir in die Welt, die ebenſo, wie jene, der buchhändleriſchen Speculation
dienen und ſich vielleicht nur durch Titel und Auswahl von ihren Vorgän-
gerinnen unterſcheiden würde, nein, unſer Zweck iſt ein anderer, höherer,
rein ideeller. Die „Dichtercharaktere“ ſind — ſagen wir es kurz her-
aus — beſtimmt, direkt in die Entwickelung der modernen deutſchen Lyrik
einzugreifen. Was das heißt, ſei für weitere Kreiſe kurz erörtert.
Moderne deutſche Lyrik — wer nennt mir drei andere Worte unſerer
Sprache, bei denen eine gleich tiefe Kluft gähnt zwiſchen dem wahren Sinne
derſelben und dem Dinge, zu deſſen Bezeichnung ſie herabgeſunken ſind? In
Wahrheit, es iſt ein trauriges Bekenntniß, aber wir haben in den letzten
Dezennien weder eine moderne, noch eine deutſche, noch überhaupt eine Lyrik
beſeſſen, die dieſes heiligen Namens der urſprünglichſten, elementarſten und
reinſten aller Dichtungsarten nur entfernt würdig wäre. Wie auf allen
übrigen Gebieten der Poeſie ohne Ausnahme hat auch auf dem der Lyrik der
Dilettantismus jeder Form das unrühmliche Scepter erobert. Und zwar hat
der feine, geſchickte und gebildete Dilettantismus wirklich oligarchiſch geherrſcht
und thut es noch, während ſich ſein gröberer, ungeſchickter und ungeſchliffener
Mitſproß mehr denn je raupenartig fortgepflanzt hat und unheimlich wimmelnd
das ganze liebe deutſche Land von Morgen bis gen Abend unſicher macht.
Der Dilettantismus erſter Sorte iſt der wirklich gefährliche, denn weil er
herrſcht und ſich für wahre Kunſt ausgiebt, verbildet er den Geſchmack des
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Arent, Wilhelm (Hrsg.): Moderne Dichter-Charaktere. Leipzig, [1885], S. [V]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/arent_dichtercharaktere_1885/15>, abgerufen am 03.07.2024.
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