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Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 3. Berlin, 1852.

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schlingen und durch ihre immer engere Umklammerung
die scheu schielenden Blicke ihrer Augen zu erpressen.
Fuhren sie auch zuweilen mit einem nagenden Stich
in ihr Herz, so kam wohl daher das plötzliche Auf¬
zücken, das krampfhafte Athmen, das sie sich selbst
zu verbergen suchte, indem sie die Hand unwillkür¬
lich an die Brust führte.

"Er hat Recht," sagte sie, mit Anstrengung sich
wieder vom Sopha erhebend, während sie sich doch
noch an die Lehne hielt. Aber dann zwang sie sich
mit aller Muskelkraft, die dem starken Willen zu
Gebote steht, aufrecht zu stehen. "Er hat Recht,
wiederholte sie. Das Leben ist und bleibt ein Krieg
Aller gegen Alle, und nur der steht fest, der sich zu¬
letzt auf Niemand verläßt, als auf sich. -- Auf Nie¬
mand
-- setzte sie mit Nachdruck hinzu. Denn der
beste Bundesgenosse wird der gefährlichste Feind,
wenn die Bande zerrissen sind, die ihn an uns fessel¬
ten. Und was sind denn diese Bande, wenn wir sie
näher betrachten? Der Leim, der die spröden Fäden
schmeidigt und bindet, ist das Interesse, weiter nichts!
Die süßeste Liebe, der eifrigste Wissensdrang, wenn
wir sie zersetzen, es bleibt nur das Gelüste, das aller¬
feinste, nach Genuß und Vortheil. Die Vaterlands¬
liebe, was ist sie, auf ihre Grundstoffe zerlegt? Ein
grober Egoismus! Und dieser Patriotismus, den wir
uns vorlügen, jeder sich selbst, in noch stärkerer Dosis
dem andern, und der giebt ihn uns wieder zurück,
aufgeschwollen, bis das grauenhafte Phantom fertig

ſchlingen und durch ihre immer engere Umklammerung
die ſcheu ſchielenden Blicke ihrer Augen zu erpreſſen.
Fuhren ſie auch zuweilen mit einem nagenden Stich
in ihr Herz, ſo kam wohl daher das plötzliche Auf¬
zücken, das krampfhafte Athmen, das ſie ſich ſelbſt
zu verbergen ſuchte, indem ſie die Hand unwillkür¬
lich an die Bruſt führte.

„Er hat Recht,“ ſagte ſie, mit Anſtrengung ſich
wieder vom Sopha erhebend, während ſie ſich doch
noch an die Lehne hielt. Aber dann zwang ſie ſich
mit aller Muskelkraft, die dem ſtarken Willen zu
Gebote ſteht, aufrecht zu ſtehen. „Er hat Recht,
wiederholte ſie. Das Leben iſt und bleibt ein Krieg
Aller gegen Alle, und nur der ſteht feſt, der ſich zu¬
letzt auf Niemand verläßt, als auf ſich. — Auf Nie¬
mand
— ſetzte ſie mit Nachdruck hinzu. Denn der
beſte Bundesgenoſſe wird der gefährlichſte Feind,
wenn die Bande zerriſſen ſind, die ihn an uns feſſel¬
ten. Und was ſind denn dieſe Bande, wenn wir ſie
näher betrachten? Der Leim, der die ſpröden Fäden
ſchmeidigt und bindet, iſt das Intereſſe, weiter nichts!
Die ſüßeſte Liebe, der eifrigſte Wiſſensdrang, wenn
wir ſie zerſetzen, es bleibt nur das Gelüſte, das aller¬
feinſte, nach Genuß und Vortheil. Die Vaterlands¬
liebe, was iſt ſie, auf ihre Grundſtoffe zerlegt? Ein
grober Egoismus! Und dieſer Patriotismus, den wir
uns vorlügen, jeder ſich ſelbſt, in noch ſtärkerer Doſis
dem andern, und der giebt ihn uns wieder zurück,
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[199/0209] ſchlingen und durch ihre immer engere Umklammerung die ſcheu ſchielenden Blicke ihrer Augen zu erpreſſen. Fuhren ſie auch zuweilen mit einem nagenden Stich in ihr Herz, ſo kam wohl daher das plötzliche Auf¬ zücken, das krampfhafte Athmen, das ſie ſich ſelbſt zu verbergen ſuchte, indem ſie die Hand unwillkür¬ lich an die Bruſt führte. „Er hat Recht,“ ſagte ſie, mit Anſtrengung ſich wieder vom Sopha erhebend, während ſie ſich doch noch an die Lehne hielt. Aber dann zwang ſie ſich mit aller Muskelkraft, die dem ſtarken Willen zu Gebote ſteht, aufrecht zu ſtehen. „Er hat Recht, wiederholte ſie. Das Leben iſt und bleibt ein Krieg Aller gegen Alle, und nur der ſteht feſt, der ſich zu¬ letzt auf Niemand verläßt, als auf ſich. — Auf Nie¬ mand — ſetzte ſie mit Nachdruck hinzu. Denn der beſte Bundesgenoſſe wird der gefährlichſte Feind, wenn die Bande zerriſſen ſind, die ihn an uns feſſel¬ ten. Und was ſind denn dieſe Bande, wenn wir ſie näher betrachten? Der Leim, der die ſpröden Fäden ſchmeidigt und bindet, iſt das Intereſſe, weiter nichts! Die ſüßeſte Liebe, der eifrigſte Wiſſensdrang, wenn wir ſie zerſetzen, es bleibt nur das Gelüſte, das aller¬ feinſte, nach Genuß und Vortheil. Die Vaterlands¬ liebe, was iſt ſie, auf ihre Grundſtoffe zerlegt? Ein grober Egoismus! Und dieſer Patriotismus, den wir uns vorlügen, jeder ſich ſelbſt, in noch ſtärkerer Doſis dem andern, und der giebt ihn uns wieder zurück, aufgeſchwollen, bis das grauenhafte Phantom fertig

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Zitationshilfe: Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 3. Berlin, 1852, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe03_1852/209>, abgerufen am 26.04.2024.