Charlotte war fort. Ihr Geheimrath hatte sie zur Mittagsstunde erwartet, und "wir haben heut sein Lieblingsgericht," hatte Charlotte sich entschuldigt. Die Geheimräthin stand im Krankenzimmer. Es war ein eigenes Lächeln, mit welchem sie die schlafenden Kinder betrachtete. Nicht das des Wohlgefallens, es war nichts Wohlgefälliges in dem Anblick. Es war eine Wisbegier, die, je länger sie über das Mädchen sich beugte, zu einer wollüstigen Empfindung ward. Der Knabe hatte sie weniger interessirt. Auf seinem Gesichte las sie nur rohen Trotz und sinnliche Tücke. In Malwinens Lineamenten schien sie zu studieren. "Sonderbar! lispelten ihre Lippen, welche schalkhafte Ruhe über dem Kindesgesichte! und doch aus allen Grübchen der Schelm vorschießend, der Zerstörungs¬ trieb -- in Kinder! So schickt vielleicht die Natur jeden fertig auf die Welt, es ist alles Prädestination, und wir verfehlen nur unsere Bestimmung wenn --"
Sie tippte mit dem Finger über Malwinens
Elftes Kapitel. Präparirtes Gift.
Charlotte war fort. Ihr Geheimrath hatte ſie zur Mittagsſtunde erwartet, und „wir haben heut ſein Lieblingsgericht,“ hatte Charlotte ſich entſchuldigt. Die Geheimräthin ſtand im Krankenzimmer. Es war ein eigenes Lächeln, mit welchem ſie die ſchlafenden Kinder betrachtete. Nicht das des Wohlgefallens, es war nichts Wohlgefälliges in dem Anblick. Es war eine Wisbegier, die, je länger ſie über das Mädchen ſich beugte, zu einer wollüſtigen Empfindung ward. Der Knabe hatte ſie weniger intereſſirt. Auf ſeinem Geſichte las ſie nur rohen Trotz und ſinnliche Tücke. In Malwinens Lineamenten ſchien ſie zu ſtudieren. „Sonderbar! lispelten ihre Lippen, welche ſchalkhafte Ruhe über dem Kindesgeſichte! und doch aus allen Grübchen der Schelm vorſchießend, der Zerſtörungs¬ trieb — in Kinder! So ſchickt vielleicht die Natur jeden fertig auf die Welt, es iſt alles Prädeſtination, und wir verfehlen nur unſere Beſtimmung wenn —“
Sie tippte mit dem Finger über Malwinens
<TEI><text><body><pbfacs="#f0218"n="[208]"/><divn="1"><head>Elftes Kapitel.<lb/><hirendition="#b">Präparirtes Gift.</hi><lb/></head><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Charlotte war fort. Ihr Geheimrath hatte ſie<lb/>
zur Mittagsſtunde erwartet, und „wir haben heut<lb/>ſein Lieblingsgericht,“ hatte Charlotte ſich entſchuldigt.<lb/>
Die Geheimräthin ſtand im Krankenzimmer. Es war<lb/>
ein eigenes Lächeln, mit welchem ſie die ſchlafenden<lb/>
Kinder betrachtete. Nicht das des Wohlgefallens, es<lb/>
war nichts Wohlgefälliges in dem Anblick. Es war<lb/>
eine Wisbegier, die, je länger ſie über das Mädchen<lb/>ſich beugte, zu einer wollüſtigen Empfindung ward.<lb/>
Der Knabe hatte ſie weniger intereſſirt. Auf ſeinem<lb/>
Geſichte las ſie nur rohen Trotz und ſinnliche Tücke.<lb/>
In Malwinens Lineamenten ſchien ſie zu ſtudieren.<lb/>„Sonderbar! lispelten ihre Lippen, welche ſchalkhafte<lb/>
Ruhe über dem Kindesgeſichte! und doch aus allen<lb/>
Grübchen der Schelm vorſchießend, der Zerſtörungs¬<lb/>
trieb — in Kinder! So ſchickt vielleicht die Natur<lb/>
jeden fertig auf die Welt, es iſt alles Prädeſtination,<lb/>
und wir verfehlen nur unſere Beſtimmung wenn —“</p><lb/><p>Sie tippte mit dem Finger über Malwinens<lb/></p></div></body></text></TEI>
[[208]/0218]
Elftes Kapitel.
Präparirtes Gift.
Charlotte war fort. Ihr Geheimrath hatte ſie
zur Mittagsſtunde erwartet, und „wir haben heut
ſein Lieblingsgericht,“ hatte Charlotte ſich entſchuldigt.
Die Geheimräthin ſtand im Krankenzimmer. Es war
ein eigenes Lächeln, mit welchem ſie die ſchlafenden
Kinder betrachtete. Nicht das des Wohlgefallens, es
war nichts Wohlgefälliges in dem Anblick. Es war
eine Wisbegier, die, je länger ſie über das Mädchen
ſich beugte, zu einer wollüſtigen Empfindung ward.
Der Knabe hatte ſie weniger intereſſirt. Auf ſeinem
Geſichte las ſie nur rohen Trotz und ſinnliche Tücke.
In Malwinens Lineamenten ſchien ſie zu ſtudieren.
„Sonderbar! lispelten ihre Lippen, welche ſchalkhafte
Ruhe über dem Kindesgeſichte! und doch aus allen
Grübchen der Schelm vorſchießend, der Zerſtörungs¬
trieb — in Kinder! So ſchickt vielleicht die Natur
jeden fertig auf die Welt, es iſt alles Prädeſtination,
und wir verfehlen nur unſere Beſtimmung wenn —“
Sie tippte mit dem Finger über Malwinens
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Alexis, Willibald: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht oder Vor fünfzig Jahren. Bd. 3. Berlin, 1852, S. [208]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/alexis_ruhe03_1852/218>, abgerufen am 21.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.