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Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907.

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spielen. Noch weniger Beachtung fanden Steigerungen dieser Reflexe.
Die allgemein üblichen Betrachtungen, die sich an derartige Befunde,
insbesondere der Abschwächung, knüpften, bestehen zumeist in dem
Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Hysterie, was übrigens von anderer
Seite wieder bestritten wird. Sehen wir der Einfachheit wegen von
organischen Nervenaffektionen ab, so muß ich die Behauptung auf-
stellen, daß sowohl der Mangel als auch die auffällige Ver-
stärkung dieser Reflexe als Attribute einer Organminder-
wertigkeit aufzufassen sind.
Als Beweis mache ich folgendes geltend:
1. Diese Reflexanomalien finden sich ungemein häufig in der Heredität
oder treten auf, wo in der Heredität Erkrankungen des zugehörigen
Organes nachzuweisen sind; 2. sie stehen in der gleichen Weise mit
Kinderfehlern in Zusammenhang wie die Stigmen; 3. sie finden sich
in Verbindung mit Stigmen der Mundzone oder wenn solche Stigmen in
der Heredität vorkommen; 4. sie finden sich in Verbindung mit Er-
krankung des zugehörigen Organes oder wenn solche Erkrankungen am
Stammbaum vorliegen.

Bevor wir die Belege und Hinweise aus der Kasuistik in Betracht
ziehen, müssen wir einige Details vorbringen, die bei Nachuntersuchungen
Berücksichtigung verdienen. So bezüglich der Prüfung der Reflexe.
Die Autoren lassen keinen Zweifel über den Zusammenhang der Reflex-
tätigkeit und der Psyche. Einiges soll hier noch hinzugefügt werden.
Wenn man sich beispielsweise auf die Prüfung des Gaumenreflexes ein-
läßt, so kann man leicht finden, daß das Ergebnis variiert, je nachdem
der Patient durch die Prüfung beeinflußt wird. So kann es geschehen,
daß eine zweite Untersuchung durch Berührung des Gaumens in der
Höhe des Uvulaansatzes einen größeren Ausschlag im Sinne eines Würg-
reflexes ergibt, aber auch einen kleineren. Im ersten Falle muß ange-
nommen werden, daß durch die erste unvermutet vorgenommene Prüfung
beim Patienten ein Ekelgefühl rege geworden ist, das bei der zweiten
Berührung sieh bereits manifestiert. Es ist klar, daß wir es in diesem
Falle nicht mehr mit der normal vorhandenen Reflextätigkeit am weichen
Gaumen, sondern mit einer psychisch begründeten und vertieften Aus-
strahlung zu tun haben, die zuweilen steigerungsfähig und mit einer
Affekterscheinung verwandt ist. Ich werde durch folgende Ergebnisse
in dieser Auffassung bestärkt: die Prüfung des Würgreflexes durch Be-
rührung des Rachens, der hinteren Rachenwand, ist oft positiv, wo die
Berührung des weichen Gaumens kein Ergebnis liefert: der weiche
Gaumen scheint in diesen Fällen aus der Reflexzone ausgeschaltet zu
sein. Dieses Verhältnis findet sich ziemlich häufig bei Kindern bis zum

spielen. Noch weniger Beachtung fanden Steigerungen dieser Reflexe.
Die allgemein üblichen Betrachtungen, die sich an derartige Befunde,
insbesondere der Abschwächung, knüpften, bestehen zumeist in dem
Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Hysterie, was übrigens von anderer
Seite wieder bestritten wird. Sehen wir der Einfachheit wegen von
organischen Nervenaffektionen ab, so muß ich die Behauptung auf-
stellen, daß sowohl der Mangel als auch die auffällige Ver-
stärkung dieser Reflexe als Attribute einer Organminder-
wertigkeit aufzufassen sind.
Als Beweis mache ich folgendes geltend:
1. Diese Reflexanomalien finden sich ungemein häufig in der Heredität
oder treten auf, wo in der Heredität Erkrankungen des zugehörigen
Organes nachzuweisen sind; 2. sie stehen in der gleichen Weise mit
Kinderfehlern in Zusammenhang wie die Stigmen; 3. sie finden sich
in Verbindung mit Stigmen der Mundzone oder wenn solche Stigmen in
der Heredität vorkommen; 4. sie finden sich in Verbindung mit Er-
krankung des zugehörigen Organes oder wenn solche Erkrankungen am
Stammbaum vorliegen.

Bevor wir die Belege und Hinweise aus der Kasuistik in Betracht
ziehen, müssen wir einige Details vorbringen, die bei Nachuntersuchungen
Berücksichtigung verdienen. So bezüglich der Prüfung der Reflexe.
Die Autoren lassen keinen Zweifel über den Zusammenhang der Reflex-
tätigkeit und der Psyche. Einiges soll hier noch hinzugefügt werden.
Wenn man sich beispielsweise auf die Prüfung des Gaumenreflexes ein-
läßt, so kann man leicht finden, daß das Ergebnis variiert, je nachdem
der Patient durch die Prüfung beeinflußt wird. So kann es geschehen,
daß eine zweite Untersuchung durch Berührung des Gaumens in der
Höhe des Uvulaansatzes einen größeren Ausschlag im Sinne eines Würg-
reflexes ergibt, aber auch einen kleineren. Im ersten Falle muß ange-
nommen werden, daß durch die erste unvermutet vorgenommene Prüfung
beim Patienten ein Ekelgefühl rege geworden ist, das bei der zweiten
Berührung sieh bereits manifestiert. Es ist klar, daß wir es in diesem
Falle nicht mehr mit der normal vorhandenen Reflextätigkeit am weichen
Gaumen, sondern mit einer psychisch begründeten und vertieften Aus-
strahlung zu tun haben, die zuweilen steigerungsfähig und mit einer
Affekterscheinung verwandt ist. Ich werde durch folgende Ergebnisse
in dieser Auffassung bestärkt: die Prüfung des Würgreflexes durch Be-
rührung des Rachens, der hinteren Rachenwand, ist oft positiv, wo die
Berührung des weichen Gaumens kein Ergebnis liefert: der weiche
Gaumen scheint in diesen Fällen aus der Reflexzone ausgeschaltet zu
sein. Dieses Verhältnis findet sich ziemlich häufig bei Kindern bis zum

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[45/0057] spielen. Noch weniger Beachtung fanden Steigerungen dieser Reflexe. Die allgemein üblichen Betrachtungen, die sich an derartige Befunde, insbesondere der Abschwächung, knüpften, bestehen zumeist in dem Hinweis auf die Zugehörigkeit zur Hysterie, was übrigens von anderer Seite wieder bestritten wird. Sehen wir der Einfachheit wegen von organischen Nervenaffektionen ab, so muß ich die Behauptung auf- stellen, daß sowohl der Mangel als auch die auffällige Ver- stärkung dieser Reflexe als Attribute einer Organminder- wertigkeit aufzufassen sind. Als Beweis mache ich folgendes geltend: 1. Diese Reflexanomalien finden sich ungemein häufig in der Heredität oder treten auf, wo in der Heredität Erkrankungen des zugehörigen Organes nachzuweisen sind; 2. sie stehen in der gleichen Weise mit Kinderfehlern in Zusammenhang wie die Stigmen; 3. sie finden sich in Verbindung mit Stigmen der Mundzone oder wenn solche Stigmen in der Heredität vorkommen; 4. sie finden sich in Verbindung mit Er- krankung des zugehörigen Organes oder wenn solche Erkrankungen am Stammbaum vorliegen. Bevor wir die Belege und Hinweise aus der Kasuistik in Betracht ziehen, müssen wir einige Details vorbringen, die bei Nachuntersuchungen Berücksichtigung verdienen. So bezüglich der Prüfung der Reflexe. Die Autoren lassen keinen Zweifel über den Zusammenhang der Reflex- tätigkeit und der Psyche. Einiges soll hier noch hinzugefügt werden. Wenn man sich beispielsweise auf die Prüfung des Gaumenreflexes ein- läßt, so kann man leicht finden, daß das Ergebnis variiert, je nachdem der Patient durch die Prüfung beeinflußt wird. So kann es geschehen, daß eine zweite Untersuchung durch Berührung des Gaumens in der Höhe des Uvulaansatzes einen größeren Ausschlag im Sinne eines Würg- reflexes ergibt, aber auch einen kleineren. Im ersten Falle muß ange- nommen werden, daß durch die erste unvermutet vorgenommene Prüfung beim Patienten ein Ekelgefühl rege geworden ist, das bei der zweiten Berührung sieh bereits manifestiert. Es ist klar, daß wir es in diesem Falle nicht mehr mit der normal vorhandenen Reflextätigkeit am weichen Gaumen, sondern mit einer psychisch begründeten und vertieften Aus- strahlung zu tun haben, die zuweilen steigerungsfähig und mit einer Affekterscheinung verwandt ist. Ich werde durch folgende Ergebnisse in dieser Auffassung bestärkt: die Prüfung des Würgreflexes durch Be- rührung des Rachens, der hinteren Rachenwand, ist oft positiv, wo die Berührung des weichen Gaumens kein Ergebnis liefert: der weiche Gaumen scheint in diesen Fällen aus der Reflexzone ausgeschaltet zu sein. Dieses Verhältnis findet sich ziemlich häufig bei Kindern bis zum

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Zitationshilfe: Adler, Alfred: Studie über Minderwertigkeit von Organen. Berlin u. a., 1907, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/adler_studie_1907/57>, abgerufen am 26.04.2024.