Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte. Nürnberg, 1839.VI. Allein zurückgeblieben auf der öden Heide, ließ ich unend- Und Alles um einen Schatten! Und diesen Schatten hätte Der Tag verging. Ich stillte meinen Hunger mit wilden VI. Allein zurückgeblieben auf der öden Heide, ließ ich unend- Und Alles um einen Schatten! Und dieſen Schatten hätte Der Tag verging. Ich ſtillte meinen Hunger mit wilden <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0062" n="[44]"/> <div n="1"> <head> <hi rendition="#aq"> <hi rendition="#b">VI.</hi> </hi> </head><lb/> <p>Allein zurückgeblieben auf der öden Heide, ließ ich unend-<lb/> lichen Thränen freien Lauf, mein armes Herz von namenloſer<lb/> banger Laſt erleichternd. Aber ich ſah meinem überſchwenglichen<lb/> Elend keine Grenzen, keinen Ausgang, kein Ziel, und ich<lb/> ſog beſonders mit grimmigem Durſt an dem neuem Gifte,<lb/> das der Unbekannte in meine Wunden gegoſſen. Als ich<lb/><hi rendition="#g">Mina’s</hi> Bild vor meine Seele rief, und die geliebte, ſüße<lb/> Geſtalt bleich und in Thränen mir erſchien, wie ich ſie zuletzt<lb/> in meiner Schmach geſehen, da trat frech und höhnend <hi rendition="#g">Ras-<lb/> cal’s</hi> Schemen zwiſchen ſie und mich, ich verhüllte mein Ge-<lb/> ſicht und floh durch die Einöde, aber die ſcheußliche Erſcheinung<lb/> gab mich nicht frei, ſondern verfolgte mich im Laufe, bis ich<lb/> athemlos an den Boden ſank, und die Erde mit erneuertem<lb/> Thränenquell befeuchtete.</p><lb/> <p>Und Alles um einen Schatten! Und dieſen Schatten hätte<lb/> mir ein Federzug wieder erworben. Ich überdachte den be-<lb/> fremdeten Antrag und meine Weigerung. Es war wüſt in<lb/> mir, ich hatte weder Urtheil noch Faſſungsvermögen mehr.</p><lb/> <p>Der Tag verging. Ich ſtillte meinen Hunger mit wilden<lb/> Früchten, meinen Durſt im nächſten Bergſtrom; die Nacht<lb/> brach ein, ich lagerte mich unter einem Baum. Der feuchte<lb/> Morgen weckte mich aus einem ſchweren Schlaf, in dem ich<lb/> mich ſelber wie im Tode röcheln hörte. <hi rendition="#g">Bendel</hi> mußte meine<lb/> Spur verloren haben, und es freute mich, es zu denken. Ich<lb/> wollte nicht unter die Menſchen zurückkehren, vor welchen ich<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [[44]/0062]
VI.
Allein zurückgeblieben auf der öden Heide, ließ ich unend-
lichen Thränen freien Lauf, mein armes Herz von namenloſer
banger Laſt erleichternd. Aber ich ſah meinem überſchwenglichen
Elend keine Grenzen, keinen Ausgang, kein Ziel, und ich
ſog beſonders mit grimmigem Durſt an dem neuem Gifte,
das der Unbekannte in meine Wunden gegoſſen. Als ich
Mina’s Bild vor meine Seele rief, und die geliebte, ſüße
Geſtalt bleich und in Thränen mir erſchien, wie ich ſie zuletzt
in meiner Schmach geſehen, da trat frech und höhnend Ras-
cal’s Schemen zwiſchen ſie und mich, ich verhüllte mein Ge-
ſicht und floh durch die Einöde, aber die ſcheußliche Erſcheinung
gab mich nicht frei, ſondern verfolgte mich im Laufe, bis ich
athemlos an den Boden ſank, und die Erde mit erneuertem
Thränenquell befeuchtete.
Und Alles um einen Schatten! Und dieſen Schatten hätte
mir ein Federzug wieder erworben. Ich überdachte den be-
fremdeten Antrag und meine Weigerung. Es war wüſt in
mir, ich hatte weder Urtheil noch Faſſungsvermögen mehr.
Der Tag verging. Ich ſtillte meinen Hunger mit wilden
Früchten, meinen Durſt im nächſten Bergſtrom; die Nacht
brach ein, ich lagerte mich unter einem Baum. Der feuchte
Morgen weckte mich aus einem ſchweren Schlaf, in dem ich
mich ſelber wie im Tode röcheln hörte. Bendel mußte meine
Spur verloren haben, und es freute mich, es zu denken. Ich
wollte nicht unter die Menſchen zurückkehren, vor welchen ich
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