Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.rothe Flecken auf dem weißen Wamms, und das Blut träufelte sichtbarlich über die Schöße des Wammses herunter. Und der lange bleiche Mann ging zum Schindanger. Jesus Maria! schrie der Wirth vom Lindwurm, das ist der todte Gast, den wir vor einundzwanzig Tagen dort einscharren ließen. Entsetzen ergriff, die auf dem Kirchhof waren, und Alle liefen mit Grausen davon, und die Hacken wurden ihnen unter den Füßen lang. Ein Sturmwind mit Schnee und Regen blies in heftigen Stößen ihnen nach. Drei Tage und drei Nächte blieben die Särge unbeerdigt stehen neben den offenen Grüften. Als die Obrigkeit endlich befahl, sie einzusenken, und die Eltern viel Geld an herzhafte Männer boten, das letzte Liebeswerk zu leisten, verwunderten sich diese Männer gar sehr. Denn wie sie die Särge aufhoben, fanden sie dieselben so leicht, als wenn sie leer wären, und doch sah man noch die Deckel fest vernagelt. Einer faßte Muth, holte Stemmeisen und Hammer, und ein Anderer mußte den Herrn Pfarrer und Capellan rufen. Wie die Särge geöffnet wurden, fand man dieselben ganz leer, und auch kein Todtenkissen, kein Leintuch, keinen Strohhalm darin. Also wurden die leeren Särge vergraben. rothe Flecken auf dem weißen Wamms, und das Blut träufelte sichtbarlich über die Schöße des Wammses herunter. Und der lange bleiche Mann ging zum Schindanger. Jesus Maria! schrie der Wirth vom Lindwurm, das ist der todte Gast, den wir vor einundzwanzig Tagen dort einscharren ließen. Entsetzen ergriff, die auf dem Kirchhof waren, und Alle liefen mit Grausen davon, und die Hacken wurden ihnen unter den Füßen lang. Ein Sturmwind mit Schnee und Regen blies in heftigen Stößen ihnen nach. Drei Tage und drei Nächte blieben die Särge unbeerdigt stehen neben den offenen Grüften. Als die Obrigkeit endlich befahl, sie einzusenken, und die Eltern viel Geld an herzhafte Männer boten, das letzte Liebeswerk zu leisten, verwunderten sich diese Männer gar sehr. Denn wie sie die Särge aufhoben, fanden sie dieselben so leicht, als wenn sie leer wären, und doch sah man noch die Deckel fest vernagelt. Einer faßte Muth, holte Stemmeisen und Hammer, und ein Anderer mußte den Herrn Pfarrer und Capellan rufen. Wie die Särge geöffnet wurden, fand man dieselben ganz leer, und auch kein Todtenkissen, kein Leintuch, keinen Strohhalm darin. Also wurden die leeren Särge vergraben. <TEI> <text> <body> <div type="chapter" n="10"> <p><pb facs="#f0076"/> rothe Flecken auf dem weißen Wamms, und das Blut träufelte sichtbarlich über die Schöße des Wammses herunter. Und der lange bleiche Mann ging zum Schindanger.</p><lb/> <p>Jesus Maria! schrie der Wirth vom Lindwurm, das ist der todte Gast, den wir vor einundzwanzig Tagen dort einscharren ließen. </p><lb/> <p>Entsetzen ergriff, die auf dem Kirchhof waren, und Alle liefen mit Grausen davon, und die Hacken wurden ihnen unter den Füßen lang. Ein Sturmwind mit Schnee und Regen blies in heftigen Stößen ihnen nach. Drei Tage und drei Nächte blieben die Särge unbeerdigt stehen neben den offenen Grüften.</p><lb/> <p>Als die Obrigkeit endlich befahl, sie einzusenken, und die Eltern viel Geld an herzhafte Männer boten, das letzte Liebeswerk zu leisten, verwunderten sich diese Männer gar sehr. Denn wie sie die Särge aufhoben, fanden sie dieselben so leicht, als wenn sie leer wären, und doch sah man noch die Deckel fest vernagelt. Einer faßte Muth, holte Stemmeisen und Hammer, und ein Anderer mußte den Herrn Pfarrer und Capellan rufen. Wie die Särge geöffnet wurden, fand man dieselben ganz leer, und auch kein Todtenkissen, kein Leintuch, keinen Strohhalm darin. Also wurden die leeren Särge vergraben.</p><lb/> </div> </body> </text> </TEI> [0076]
rothe Flecken auf dem weißen Wamms, und das Blut träufelte sichtbarlich über die Schöße des Wammses herunter. Und der lange bleiche Mann ging zum Schindanger.
Jesus Maria! schrie der Wirth vom Lindwurm, das ist der todte Gast, den wir vor einundzwanzig Tagen dort einscharren ließen.
Entsetzen ergriff, die auf dem Kirchhof waren, und Alle liefen mit Grausen davon, und die Hacken wurden ihnen unter den Füßen lang. Ein Sturmwind mit Schnee und Regen blies in heftigen Stößen ihnen nach. Drei Tage und drei Nächte blieben die Särge unbeerdigt stehen neben den offenen Grüften.
Als die Obrigkeit endlich befahl, sie einzusenken, und die Eltern viel Geld an herzhafte Männer boten, das letzte Liebeswerk zu leisten, verwunderten sich diese Männer gar sehr. Denn wie sie die Särge aufhoben, fanden sie dieselben so leicht, als wenn sie leer wären, und doch sah man noch die Deckel fest vernagelt. Einer faßte Muth, holte Stemmeisen und Hammer, und ein Anderer mußte den Herrn Pfarrer und Capellan rufen. Wie die Särge geöffnet wurden, fand man dieselben ganz leer, und auch kein Todtenkissen, kein Leintuch, keinen Strohhalm darin. Also wurden die leeren Särge vergraben.
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Zitationshilfe: | Zschokke, Heinrich: Der todte Gast. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 11. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [59]–219. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zschokke_gast_1910/76>, abgerufen am 16.02.2025. |