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Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785.

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Nachdenken über Sterblichkeit

Und ich sollte stolz seyn auf das, was ich
bin und habe und thue? Jch sollte mich über
andere erheben, und es je vergessen, daß mein
Ursprung wie der ihrige war, und mein Ende
seyn wird wie ihr Ende? Jch sollte mit mei-
nem ganzen Herzen an Dingen hängen, die
so vergänglich und hinfällig sind? Jch sollte
mich mit ängstlicher Unruhe um Güter bewer-
ben, die so ungewiß sind und die ich so bald
auf immer verlieren muß? Jch sollte mich
über den Verlust oder den Mangel dieser Gü-
ter so betrüben, als ob sie mein bleibendes Ei-
genthum, als ob sie ein Theil meiner selbst
wären? Jch sollte hier, wo Vergänglichkeit
und Tod herrschen, meine vornehmste, meine
ganze Glückseligkeit suchen? Nein, in allen
diesen Absichten will ich so denken und handeln,
und die Dinge dieser Welt so ansehen und ge-
brauchen, wie es einem so schwachen, sterbli-
chen Menschen zukommt.

Aber wohl mir, daß ich nicht ganz sterb-
lich bin, daß mein Geist ewig leben, und sich
ewig seines Daseyns freuen soll! Ja, das
sagt mir alles, was ich von Gott, von seinen

Ver-
Nachdenken über Sterblichkeit

Und ich ſollte ſtolz ſeyn auf das, was ich
bin und habe und thue? Jch ſollte mich über
andere erheben, und es je vergeſſen, daß mein
Urſprung wie der ihrige war, und mein Ende
ſeyn wird wie ihr Ende? Jch ſollte mit mei-
nem ganzen Herzen an Dingen hängen, die
ſo vergänglich und hinfällig ſind? Jch ſollte
mich mit ängſtlicher Unruhe um Güter bewer-
ben, die ſo ungewiß ſind und die ich ſo bald
auf immer verlieren muß? Jch ſollte mich
über den Verluſt oder den Mangel dieſer Gü-
ter ſo betrüben, als ob ſie mein bleibendes Ei-
genthum, als ob ſie ein Theil meiner ſelbſt
wären? Jch ſollte hier, wo Vergänglichkeit
und Tod herrſchen, meine vornehmſte, meine
ganze Glückſeligkeit ſuchen? Nein, in allen
dieſen Abſichten will ich ſo denken und handeln,
und die Dinge dieſer Welt ſo anſehen und ge-
brauchen, wie es einem ſo ſchwachen, ſterbli-
chen Menſchen zukommt.

Aber wohl mir, daß ich nicht ganz ſterb-
lich bin, daß mein Geiſt ewig leben, und ſich
ewig ſeines Daſeyns freuen ſoll! Ja, das
ſagt mir alles, was ich von Gott, von ſeinen

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[70/0092] Nachdenken über Sterblichkeit Und ich ſollte ſtolz ſeyn auf das, was ich bin und habe und thue? Jch ſollte mich über andere erheben, und es je vergeſſen, daß mein Urſprung wie der ihrige war, und mein Ende ſeyn wird wie ihr Ende? Jch ſollte mit mei- nem ganzen Herzen an Dingen hängen, die ſo vergänglich und hinfällig ſind? Jch ſollte mich mit ängſtlicher Unruhe um Güter bewer- ben, die ſo ungewiß ſind und die ich ſo bald auf immer verlieren muß? Jch ſollte mich über den Verluſt oder den Mangel dieſer Gü- ter ſo betrüben, als ob ſie mein bleibendes Ei- genthum, als ob ſie ein Theil meiner ſelbſt wären? Jch ſollte hier, wo Vergänglichkeit und Tod herrſchen, meine vornehmſte, meine ganze Glückſeligkeit ſuchen? Nein, in allen dieſen Abſichten will ich ſo denken und handeln, und die Dinge dieſer Welt ſo anſehen und ge- brauchen, wie es einem ſo ſchwachen, ſterbli- chen Menſchen zukommt. Aber wohl mir, daß ich nicht ganz ſterb- lich bin, daß mein Geiſt ewig leben, und ſich ewig ſeines Daſeyns freuen ſoll! Ja, das ſagt mir alles, was ich von Gott, von ſeinen Ver-

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Zitationshilfe: Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/92>, abgerufen am 26.08.2024.