Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785.Wie muß man nachdenken? Freygebige, der unmäßig, der Andächtige, derhart und lieblos, der Sanfte und Gütige, der ein Wollüstling ist, den Namen eines Tugend- haften? Oder sollte ihn wohl der verdienen, der zwar viele gute Handlungen verrichtet, aber sie aus Noth, aus Eitelkeit, aus niedrigem Eigennutz, aus knechtischer Furcht vor der Strafe verrichtet? Die Tugend drücket doch einen gewissen Adel von Gesinnungen und Handlungen aus, der damit nicht bestehen kann. Zur Tugend muß also wohl wesentlich gehören, daß man das Gute selbst liebe; daß man alles Gute, daß man es zu allen Zeiten, und in allen Umständen liebe; daß man es auf eine entschiedene Art und mehr als alles an- dere, mehr als Sinneslust und äußere Vor- züge liebe; daß man es immer gern und wil- lig thue, und sich darüber freue, wenn man es gethan hat. Die Tugend ist also wohl eine gewisse Denkens- und Sinnesart, die den Menschen stets beseelen und sein ganzes Ver- halten regieren muß. Eine zweyte Beschäfftigung des nach- leget,
Wie muß man nachdenken? Freygebige, der unmäßig, der Andächtige, derhart und lieblos, der Sanfte und Gütige, der ein Wollüſtling iſt, den Namen eines Tugend- haften? Oder ſollte ihn wohl der verdienen, der zwar viele gute Handlungen verrichtet, aber ſie aus Noth, aus Eitelkeit, aus niedrigem Eigennutz, aus knechtiſcher Furcht vor der Strafe verrichtet? Die Tugend drücket doch einen gewiſſen Adel von Geſinnungen und Handlungen aus, der damit nicht beſtehen kann. Zur Tugend muß alſo wohl weſentlich gehören, daß man das Gute ſelbſt liebe; daß man alles Gute, daß man es zu allen Zeiten, und in allen Umſtänden liebe; daß man es auf eine entſchiedene Art und mehr als alles an- dere, mehr als Sinnesluſt und äußere Vor- züge liebe; daß man es immer gern und wil- lig thue, und ſich darüber freue, wenn man es gethan hat. Die Tugend iſt alſo wohl eine gewiſſe Denkens- und Sinnesart, die den Menſchen ſtets beſeelen und ſein ganzes Ver- halten regieren muß. Eine zweyte Beſchäfftigung des nach- leget,
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Wie muß man nachdenken?
Freygebige, der unmäßig, der Andächtige, der
hart und lieblos, der Sanfte und Gütige, der
ein Wollüſtling iſt, den Namen eines Tugend-
haften? Oder ſollte ihn wohl der verdienen, der
zwar viele gute Handlungen verrichtet, aber
ſie aus Noth, aus Eitelkeit, aus niedrigem
Eigennutz, aus knechtiſcher Furcht vor der
Strafe verrichtet? Die Tugend drücket doch
einen gewiſſen Adel von Geſinnungen und
Handlungen aus, der damit nicht beſtehen
kann. Zur Tugend muß alſo wohl weſentlich
gehören, daß man das Gute ſelbſt liebe; daß
man alles Gute, daß man es zu allen Zeiten,
und in allen Umſtänden liebe; daß man es auf
eine entſchiedene Art und mehr als alles an-
dere, mehr als Sinnesluſt und äußere Vor-
züge liebe; daß man es immer gern und wil-
lig thue, und ſich darüber freue, wenn man
es gethan hat. Die Tugend iſt alſo wohl
eine gewiſſe Denkens- und Sinnesart, die den
Menſchen ſtets beſeelen und ſein ganzes Ver-
halten regieren muß.
Eine zweyte Beſchäfftigung des nach-
denkenden Menſchen, wodurch er ſeine Begrif-
fe vollſtändiger und fruchtbarer zu ma-
chen ſuchet, iſt die, daß er bey ſich ſelbſt über-
leget,
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