freundlich, verächtlich begegnet? Hab ich mich etwa von der Ungeduld und dem Zorne dahin reißen lassen, und dadurch selbst das Gute, was ich vielleicht that und redete, unwirksam, oder gar schädlich gemacht?
Ach, wenn itzt im Stillen jemand über mich weinen, oder sich meinetwegen bekümmern sollte! -- Gott, wie dürfen wir dich Vater nennen, wie uns deine Kinder heißen, wenn wir einander betrüben, und uns das Leben wechselsweise erschweren und verdittern! Wie könntest du da mit Wohlgefallen auf uns her- absehen und deine Lust an uns haben! Ach, könnte ich doch meinen beleidigten, bekümmer- ten Bruder sogleich an mein Herz drücken, ihm seinen Kummer benehmen, seine Thränen ab- wischen, und ihn um Verzeihung bitten! Ja, wenn mich mein Gewissen dieses Fehlers be- schuldiget, und du, Vater, läßt mich das Licht des morgenden Tages erblicken, so will ich dann thun, was ich itzt nicht mehr thun kann. Ich will mich nicht schämen, meinen Fehler zu gestehen und ihn auf alle Weise zu vergüten, wenn ich ihn gleich gegen einen meiner Unter- gebenen, gegen mein Gesinde, gegen eine Per- son von niedrigem Stande begangen hätte!
Denn
Erster Theil. N
Prüfung darüber.
freundlich, verächtlich begegnet? Hab ich mich etwa von der Ungeduld und dem Zorne dahin reißen laſſen, und dadurch ſelbſt das Gute, was ich vielleicht that und redete, unwirkſam, oder gar ſchädlich gemacht?
Ach, wenn itzt im Stillen jemand über mich weinen, oder ſich meinetwegen bekümmern ſollte! — Gott, wie dürfen wir dich Vater nennen, wie uns deine Kinder heißen, wenn wir einander betrüben, und uns das Leben wechſelsweiſe erſchweren und verdittern! Wie könnteſt du da mit Wohlgefallen auf uns her- abſehen und deine Luſt an uns haben! Ach, könnte ich doch meinen beleidigten, bekümmer- ten Bruder ſogleich an mein Herz drücken, ihm ſeinen Kummer benehmen, ſeine Thränen ab- wiſchen, und ihn um Verzeihung bitten! Ja, wenn mich mein Gewiſſen dieſes Fehlers be- ſchuldiget, und du, Vater, läßt mich das Licht des morgenden Tages erblicken, ſo will ich dann thun, was ich itzt nicht mehr thun kann. Ich will mich nicht ſchämen, meinen Fehler zu geſtehen und ihn auf alle Weiſe zu vergüten, wenn ich ihn gleich gegen einen meiner Unter- gebenen, gegen mein Geſinde, gegen eine Per- ſon von niedrigem Stande begangen hätte!
Denn
Erſter Theil. N
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Prüfung darüber.
freundlich, verächtlich begegnet? Hab ich mich
etwa von der Ungeduld und dem Zorne dahin
reißen laſſen, und dadurch ſelbſt das Gute,
was ich vielleicht that und redete, unwirkſam,
oder gar ſchädlich gemacht?
Ach, wenn itzt im Stillen jemand über mich
weinen, oder ſich meinetwegen bekümmern
ſollte! — Gott, wie dürfen wir dich Vater
nennen, wie uns deine Kinder heißen, wenn
wir einander betrüben, und uns das Leben
wechſelsweiſe erſchweren und verdittern! Wie
könnteſt du da mit Wohlgefallen auf uns her-
abſehen und deine Luſt an uns haben! Ach,
könnte ich doch meinen beleidigten, bekümmer-
ten Bruder ſogleich an mein Herz drücken, ihm
ſeinen Kummer benehmen, ſeine Thränen ab-
wiſchen, und ihn um Verzeihung bitten! Ja,
wenn mich mein Gewiſſen dieſes Fehlers be-
ſchuldiget, und du, Vater, läßt mich das Licht
des morgenden Tages erblicken, ſo will ich
dann thun, was ich itzt nicht mehr thun kann.
Ich will mich nicht ſchämen, meinen Fehler zu
geſtehen und ihn auf alle Weiſe zu vergüten,
wenn ich ihn gleich gegen einen meiner Unter-
gebenen, gegen mein Geſinde, gegen eine Per-
ſon von niedrigem Stande begangen hätte!
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Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/215>, abgerufen am 28.07.2024.
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