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Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785.

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der vorhergehenden Betrachtung.
schenpflicht gerne und gewissenhaft erfüllt, je-
des Menschenleiden geduldig ertragen, jede
Menschenfreude dankbar und froh genossen?
Kann der Vater der Menschen mit Wohlge-
fallen und Zufriedenheit auf mich, sein Kind,
herabsehen, und mein Herz und mein Verhal-
ten billigen?

Prüfe dich selbst, meine Seele, und wirf
einen scharfen, unpartheyischen Blick auf die
Geschäffte und Begebenheiten des vergangenen
Tages, und auf deine Gesinnungen und Hand-
lungen bey denselben zurück! Du bist und den-
kest in der Gegenwart Gottes; und ihn, den
Allwissenden, kann nichts täuschen.

Welche Erniedrigung, welche Beschämung,
wenn ich mich irgend einer Gesinnung, irgend
einer Rede, irgend einer That beschuldigen
müßte, die mit meiner Natur, mit meiner Be-
stimmung, mit meiner Pflicht nicht bestehen
könnte! Wenn ich mich durch Neid, durch
Wollust, durch ungerechten Zorn, durch Träg-
heit, durch Ungeduld, durch Mangel der Theil-
nehmung an den Schicksalen meiner Brüder,
durch eine ganz sinnliche, irrdische Denkungs-
art, erniedriget und entehret hätte! So würde
ich mich ja von meiner Bestimmung und von

dem
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der vorhergehenden Betrachtung.
ſchenpflicht gerne und gewiſſenhaft erfüllt, je-
des Menſchenleiden geduldig ertragen, jede
Menſchenfreude dankbar und froh genoſſen?
Kann der Vater der Menſchen mit Wohlge-
fallen und Zufriedenheit auf mich, ſein Kind,
herabſehen, und mein Herz und mein Verhal-
ten billigen?

Prüfe dich ſelbſt, meine Seele, und wirf
einen ſcharfen, unpartheyiſchen Blick auf die
Geſchäffte und Begebenheiten des vergangenen
Tages, und auf deine Geſinnungen und Hand-
lungen bey denſelben zurück! Du biſt und den-
keſt in der Gegenwart Gottes; und ihn, den
Allwiſſenden, kann nichts täuſchen.

Welche Erniedrigung, welche Beſchämung,
wenn ich mich irgend einer Geſinnung, irgend
einer Rede, irgend einer That beſchuldigen
müßte, die mit meiner Natur, mit meiner Be-
ſtimmung, mit meiner Pflicht nicht beſtehen
könnte! Wenn ich mich durch Neid, durch
Wolluſt, durch ungerechten Zorn, durch Träg-
heit, durch Ungeduld, durch Mangel der Theil-
nehmung an den Schickſalen meiner Brüder,
durch eine ganz ſinnliche, irrdiſche Denkungs-
art, erniedriget und entehret hätte! So würde
ich mich ja von meiner Beſtimmung und von

dem
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[165/0187] der vorhergehenden Betrachtung. ſchenpflicht gerne und gewiſſenhaft erfüllt, je- des Menſchenleiden geduldig ertragen, jede Menſchenfreude dankbar und froh genoſſen? Kann der Vater der Menſchen mit Wohlge- fallen und Zufriedenheit auf mich, ſein Kind, herabſehen, und mein Herz und mein Verhal- ten billigen? Prüfe dich ſelbſt, meine Seele, und wirf einen ſcharfen, unpartheyiſchen Blick auf die Geſchäffte und Begebenheiten des vergangenen Tages, und auf deine Geſinnungen und Hand- lungen bey denſelben zurück! Du biſt und den- keſt in der Gegenwart Gottes; und ihn, den Allwiſſenden, kann nichts täuſchen. Welche Erniedrigung, welche Beſchämung, wenn ich mich irgend einer Geſinnung, irgend einer Rede, irgend einer That beſchuldigen müßte, die mit meiner Natur, mit meiner Be- ſtimmung, mit meiner Pflicht nicht beſtehen könnte! Wenn ich mich durch Neid, durch Wolluſt, durch ungerechten Zorn, durch Träg- heit, durch Ungeduld, durch Mangel der Theil- nehmung an den Schickſalen meiner Brüder, durch eine ganz ſinnliche, irrdiſche Denkungs- art, erniedriget und entehret hätte! So würde ich mich ja von meiner Beſtimmung und von dem L 3

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Zitationshilfe: Zollikofer, Georg Joachim: Andachtsübungen und Gebete zum Privatgebrauche für nachdenkende und gutgesinnte Christen. Leipzig, 1785, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zollikofer_andachtsuebungen01_1785/187>, abgerufen am 29.07.2024.