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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.
genommen. Bei Luther spielen hie und da (z. B. Tischr. Nr. 279)
in die überschwenglichen Schilderungen vom unbegrenzten Wissen
und den wundersamen Kräften Adams doch auch schlichtere und
gesündere Vorstellungen, namentlich die Parallele des Urstands mit
der Beschaffenheit eines noch reinen und unverdorbenen Kindes,
hinein. Mehrere Aussprüche sowohl lutherischer als reformirter
Symbole lassen eine solche vorsichtiger umgrenzte und naturgemäßere
Vorstellung vom Wesen des Urstands als eines zwar unschuldigen,
darum aber noch nicht allseitig vollkommnen Zustandes hervortreten.
Melanchthon in der Apologie der Augsb. Confession bietet eine
Schilderung der ursprünglichen Gerechtigkeit, welche die in derselben
begriffenen Vorzüge mehr ihrer Reinheit als ihrer etwaigen Fülle
und abgeschlossene Vollendung nach betont. Er rechnet dahin, neben
den körperlichen Vorzügen eines "allenthalben reinen Geblüts und
unverderbter Kräfte des Leibes", die Geistesgaben oder ethischen
Güter einer reinen Gotteserkenntniß, Gottesfurcht und vertrauenden
Hingabe an Gott (notitia Dei certior, timor Dei, fiducia Dei)
fügt aber wenigstens im lat. Texte des Symbols, zu dieser Auf-
zählung noch den einschränkenden Zusatz: "oder wenigstens Geradheit
und Vermögen, Jenes zu leisten" (aut certe rectitudinem et vim
ista efficiendi
) hinzu. Mittelst dieser Einschränkung, die im deut-
schen Texte allerdings fehlt, sollte offenbar auf das zunächst nur
Potentielle, noch nicht zur selbstthätigen Ausbildung und Vollendung
Gelangte jener Ureigenschaften des Menschen hingewiesen werden.
Das dem Kindesalter Analoge, jugendlich Urkräftige, aber noch Ent-
wicklungsbedürftige des Urstands kam so in gebührender Weise zur
Anerkennung, ohne daß doch jene Attribute der reineren Gottes-
erkenntniß etc. im Sinne des fortgeschrittenen Naturalismus der
Neuzeit zu bloßen schwachen Keimen oder embryonischen Anlagen
reducirt wurden.1) Jnnerhalb der lutherischen Symbolliteratur
findet sich, da die bereits oben betrachteten Aussagen der Concor-

1) Vgl. meine Schrift: "Die Augsb. Confession etc. (Frankfurt 1870)
S. 140 ff.

I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
genommen. Bei Luther ſpielen hie und da (z. B. Tiſchr. Nr. 279)
in die überſchwenglichen Schilderungen vom unbegrenzten Wiſſen
und den wunderſamen Kräften Adams doch auch ſchlichtere und
geſündere Vorſtellungen, namentlich die Parallele des Urſtands mit
der Beſchaffenheit eines noch reinen und unverdorbenen Kindes,
hinein. Mehrere Ausſprüche ſowohl lutheriſcher als reformirter
Symbole laſſen eine ſolche vorſichtiger umgrenzte und naturgemäßere
Vorſtellung vom Weſen des Urſtands als eines zwar unſchuldigen,
darum aber noch nicht allſeitig vollkommnen Zuſtandes hervortreten.
Melanchthon in der Apologie der Augsb. Confeſſion bietet eine
Schilderung der urſprünglichen Gerechtigkeit, welche die in derſelben
begriffenen Vorzüge mehr ihrer Reinheit als ihrer etwaigen Fülle
und abgeſchloſſene Vollendung nach betont. Er rechnet dahin, neben
den körperlichen Vorzügen eines „allenthalben reinen Geblüts und
unverderbter Kräfte des Leibes‟, die Geiſtesgaben oder ethiſchen
Güter einer reinen Gotteserkenntniß, Gottesfurcht und vertrauenden
Hingabe an Gott (notitia Dei certior, timor Dei, fiducia Dei)
fügt aber wenigſtens im lat. Texte des Symbols, zu dieſer Auf-
zählung noch den einſchränkenden Zuſatz: „oder wenigſtens Geradheit
und Vermögen, Jenes zu leiſten‟ (aut certe rectitudinem et vim
ista efficiendi
) hinzu. Mittelſt dieſer Einſchränkung, die im deut-
ſchen Texte allerdings fehlt, ſollte offenbar auf das zunächſt nur
Potentielle, noch nicht zur ſelbſtthätigen Ausbildung und Vollendung
Gelangte jener Ureigenſchaften des Menſchen hingewieſen werden.
Das dem Kindesalter Analoge, jugendlich Urkräftige, aber noch Ent-
wicklungsbedürftige des Urſtands kam ſo in gebührender Weiſe zur
Anerkennung, ohne daß doch jene Attribute der reineren Gottes-
erkenntniß ꝛc. im Sinne des fortgeſchrittenen Naturalismus der
Neuzeit zu bloßen ſchwachen Keimen oder embryoniſchen Anlagen
reducirt wurden.1) Jnnerhalb der lutheriſchen Symbolliteratur
findet ſich, da die bereits oben betrachteten Ausſagen der Concor-

1) Vgl. meine Schrift: „Die Augsb. Confeſſion ꝛc. (Frankfurt 1870)
S. 140 ff.
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[43/0053] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. genommen. Bei Luther ſpielen hie und da (z. B. Tiſchr. Nr. 279) in die überſchwenglichen Schilderungen vom unbegrenzten Wiſſen und den wunderſamen Kräften Adams doch auch ſchlichtere und geſündere Vorſtellungen, namentlich die Parallele des Urſtands mit der Beſchaffenheit eines noch reinen und unverdorbenen Kindes, hinein. Mehrere Ausſprüche ſowohl lutheriſcher als reformirter Symbole laſſen eine ſolche vorſichtiger umgrenzte und naturgemäßere Vorſtellung vom Weſen des Urſtands als eines zwar unſchuldigen, darum aber noch nicht allſeitig vollkommnen Zuſtandes hervortreten. Melanchthon in der Apologie der Augsb. Confeſſion bietet eine Schilderung der urſprünglichen Gerechtigkeit, welche die in derſelben begriffenen Vorzüge mehr ihrer Reinheit als ihrer etwaigen Fülle und abgeſchloſſene Vollendung nach betont. Er rechnet dahin, neben den körperlichen Vorzügen eines „allenthalben reinen Geblüts und unverderbter Kräfte des Leibes‟, die Geiſtesgaben oder ethiſchen Güter einer reinen Gotteserkenntniß, Gottesfurcht und vertrauenden Hingabe an Gott (notitia Dei certior, timor Dei, fiducia Dei) fügt aber wenigſtens im lat. Texte des Symbols, zu dieſer Auf- zählung noch den einſchränkenden Zuſatz: „oder wenigſtens Geradheit und Vermögen, Jenes zu leiſten‟ (aut certe rectitudinem et vim ista efficiendi) hinzu. Mittelſt dieſer Einſchränkung, die im deut- ſchen Texte allerdings fehlt, ſollte offenbar auf das zunächſt nur Potentielle, noch nicht zur ſelbſtthätigen Ausbildung und Vollendung Gelangte jener Ureigenſchaften des Menſchen hingewieſen werden. Das dem Kindesalter Analoge, jugendlich Urkräftige, aber noch Ent- wicklungsbedürftige des Urſtands kam ſo in gebührender Weiſe zur Anerkennung, ohne daß doch jene Attribute der reineren Gottes- erkenntniß ꝛc. im Sinne des fortgeſchrittenen Naturalismus der Neuzeit zu bloßen ſchwachen Keimen oder embryoniſchen Anlagen reducirt wurden. 1) Jnnerhalb der lutheriſchen Symbolliteratur findet ſich, da die bereits oben betrachteten Ausſagen der Concor- 1) Vgl. meine Schrift: „Die Augsb. Confeſſion ꝛc. (Frankfurt 1870) S. 140 ff.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 43. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/53>, abgerufen am 22.11.2024.