Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung. gestalten -- dieses Streben regt sich ziemlich frühzeitig und ruftim Laufe der kirchlichen Jahrhunderte eine Reihe eigenthümlicher Speculationen hervor. Ein Theil dieser Speculationen, die man wohl als naturalistische im weiteren Sinne des Wortes und als Vor- läuferinnen des modernen entschiedneren Naturalismus bezeichnen darf, richtet sein Augenmerk mehr auf den Paradieseszustand selbst, ein andrer auf die nächste nachparadiesische Zeit. Jm Zusammen- hange mit der auf Jneinsbildung evolutionistischer mit degradatio- nistischer Geschichtsbetrachtung überhaupt abzielenden Tendenz wird bald 1) die Dauer des paradiesischen Unschuldszustandes möglichst verkürzt, bald 2) innerhalb desselben ein frühester Keim und vor- bereitender Anfang zum Abfalle nachzuweisen gesucht, bald 3) unter Festhaltung der ethischen Jntegrität und Reinheit der noch nicht Gefallenen ihre sonstige Vollkommenheit, besonders in intellectueller Hinsicht, als eine beschränkte dargestellt, bald endlich 4) für die nächste Zeit nach dem Falle eine gewisse Nachwirkung des verlorenen ursprünglichen Vollkommenheitszustandes, ein längerer oder kürzerer Nachglanz der Paradiesessonne als sich vermischend mit den dunklen Schatten der anhebenden Nacht, aufzuzeigen versucht. Betrachten wir diese viererlei Naturalisirungsversuche, vorerst noch ohne kritisches Eingehen auf die Frage nach ihrer etwaigen exegetischen oder heils- geschichtlichen Berechtigung, des Näheren im Einzelnen. 1) Eine höchst kurze Dauer des Urstandes, beschränkt 3*
I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. geſtalten — dieſes Streben regt ſich ziemlich frühzeitig und ruftim Laufe der kirchlichen Jahrhunderte eine Reihe eigenthümlicher Speculationen hervor. Ein Theil dieſer Speculationen, die man wohl als naturaliſtiſche im weiteren Sinne des Wortes und als Vor- läuferinnen des modernen entſchiedneren Naturalismus bezeichnen darf, richtet ſein Augenmerk mehr auf den Paradieſeszuſtand ſelbſt, ein andrer auf die nächſte nachparadieſiſche Zeit. Jm Zuſammen- hange mit der auf Jneinsbildung evolutioniſtiſcher mit degradatio- niſtiſcher Geſchichtsbetrachtung überhaupt abzielenden Tendenz wird bald 1) die Dauer des paradieſiſchen Unſchuldszuſtandes möglichſt verkürzt, bald 2) innerhalb deſſelben ein früheſter Keim und vor- bereitender Anfang zum Abfalle nachzuweiſen geſucht, bald 3) unter Feſthaltung der ethiſchen Jntegrität und Reinheit der noch nicht Gefallenen ihre ſonſtige Vollkommenheit, beſonders in intellectueller Hinſicht, als eine beſchränkte dargeſtellt, bald endlich 4) für die nächſte Zeit nach dem Falle eine gewiſſe Nachwirkung des verlorenen urſprünglichen Vollkommenheitszuſtandes, ein längerer oder kürzerer Nachglanz der Paradieſesſonne als ſich vermiſchend mit den dunklen Schatten der anhebenden Nacht, aufzuzeigen verſucht. Betrachten wir dieſe viererlei Naturaliſirungsverſuche, vorerſt noch ohne kritiſches Eingehen auf die Frage nach ihrer etwaigen exegetiſchen oder heils- geſchichtlichen Berechtigung, des Näheren im Einzelnen. 1) Eine höchſt kurze Dauer des Urſtandes, beſchränkt 3*
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I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
geſtalten — dieſes Streben regt ſich ziemlich frühzeitig und ruft
im Laufe der kirchlichen Jahrhunderte eine Reihe eigenthümlicher
Speculationen hervor. Ein Theil dieſer Speculationen, die man
wohl als naturaliſtiſche im weiteren Sinne des Wortes und als Vor-
läuferinnen des modernen entſchiedneren Naturalismus bezeichnen
darf, richtet ſein Augenmerk mehr auf den Paradieſeszuſtand ſelbſt,
ein andrer auf die nächſte nachparadieſiſche Zeit. Jm Zuſammen-
hange mit der auf Jneinsbildung evolutioniſtiſcher mit degradatio-
niſtiſcher Geſchichtsbetrachtung überhaupt abzielenden Tendenz wird
bald 1) die Dauer des paradieſiſchen Unſchuldszuſtandes möglichſt
verkürzt, bald 2) innerhalb deſſelben ein früheſter Keim und vor-
bereitender Anfang zum Abfalle nachzuweiſen geſucht, bald 3) unter
Feſthaltung der ethiſchen Jntegrität und Reinheit der noch nicht
Gefallenen ihre ſonſtige Vollkommenheit, beſonders in intellectueller
Hinſicht, als eine beſchränkte dargeſtellt, bald endlich 4) für die
nächſte Zeit nach dem Falle eine gewiſſe Nachwirkung des verlorenen
urſprünglichen Vollkommenheitszuſtandes, ein längerer oder kürzerer
Nachglanz der Paradieſesſonne als ſich vermiſchend mit den dunklen
Schatten der anhebenden Nacht, aufzuzeigen verſucht. Betrachten
wir dieſe viererlei Naturaliſirungsverſuche, vorerſt noch ohne kritiſches
Eingehen auf die Frage nach ihrer etwaigen exegetiſchen oder heils-
geſchichtlichen Berechtigung, des Näheren im Einzelnen.
1) Eine höchſt kurze Dauer des Urſtandes, beſchränkt
auf wenige Tage oder gar Stunden, zu ſtatuiren, ſahen viele jüdiſche
und ihnen folgend auch viele chriſtliche Ausleger in Folge ihrer buch-
ſtäblichen Faſſung der ſechs Schöpfungstage und des damit nahe-
gelegten Scheines, als ob das über den Sündenfall der Protoplaſten
Erzählte ſich in nächſter Friſt nach ihrer Erſchaffung und Verſetzung
ins Paradies zugetragen haben müſſe, ſich veranlaßt. Das vor-
und außerchriſtliche Judenthum bot hier allerdings ziemlich verſchie-
denartige Traditionen dar. Die vorherrſchende Meinung ſcheint
jene z. B. in der Gemara Sanhedr. 4, 10 ausgedrückte geweſen
zu ſein, wonach Verſetzung des eben erſchaffenen Menſchen ins Pa-
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