Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

IX. Das Alter des Menschengeschlechts.
einem einzigen Jahre ein paar Jahrtausende mehr in die scharf-
sinnigen Berechnungen eines europäischen Gelehrten hinein schwem-
men."1) Weder die Nichtschlamm-Ablagerungen also, noch die
Mississippi-Anschwemmungen, noch die der Oder oder des Rhein,
noch die der Rhone oder der Tiniere am Genfer See, bieten irgend-
welche auch nur annähernd sichere Chronometer dar. Von den durch
die aushöhlende Thätigkeit mächtiger Wasserfälle bewirkten Weg-
spülungen gilt Aehnliches. Die s. Z. von Lyell und andren Geo-
logen versuchte Berechnung des allmähligen Zurückweichens des
Niagara-Falles um angeblich Einen Fuß jährlich, wurde hinfällig,
als plötzlich im Winter 1868/69 ein mächtiger Gesteins-Einsturz den
ungeheuren Fall um mehr als 30 Fuß auf Einmal zurückweichen
machte und so das frühere Hufeisen in ein Dreieck umwandelte!
Bei denjenigen Veränderungen, die man an langsam sich hebenden
oder senkenden Meeres- oder Seeküsten beobachtet, tragen sich nicht
selten ähnliche plötzliche oder ruckweise Katastrophen zu, welche alle
Berechnungen im Sinne des Uniformitarismus oder Quietismus zu
Schanden machen. Die Neuhebriden-Jnsel Tanna ergab, während
ihr Bodenniveau vorher in unmerklich langsamer Veränderung be-
griffen war, im vorigen Jahre in Folge eines Erdbebens mit Einem
Male eine Hebung ihres Bodens um 20 Fuß. Man denke auch
an die berühmte Fischerhütte von Södertelgte am Mälar-See, die,
wie man jetzt allgemein annimmt, einst durch einen plötzlichen Berg-
rutsch verschüttet wurde, während der unzeitgemäße Scharfsinn früherer
Untersucher für sie ein Alter von 80 000 Jahren herauszurechnen
versucht hatte. 2)

Dieser Stand der Dinge läßt überhaupt die Zahlenbestimmungen
der geologischen Chronologen als etwas höchst Prekäres und Werth-
loses erscheinen. Die Abweichungen der einzelnen Berechnungs-

1) Max Eyth, Wanderbuch eines deutschen Jngenieurs, Bd. I, Heidelberg
1871.
2) Vgl. Karsten, in den Sitzungsberichten der Berliner Gesellsch. f. An-
thropologie, Ethnologie etc. 1876, S. 75 f.
20*

IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts.
einem einzigen Jahre ein paar Jahrtauſende mehr in die ſcharf-
ſinnigen Berechnungen eines europäiſchen Gelehrten hinein ſchwem-
men.‟1) Weder die Nichtſchlamm-Ablagerungen alſo, noch die
Miſſiſſippi-Anſchwemmungen, noch die der Oder oder des Rhein,
noch die der Rhone oder der Tinière am Genfer See, bieten irgend-
welche auch nur annähernd ſichere Chronometer dar. Von den durch
die aushöhlende Thätigkeit mächtiger Waſſerfälle bewirkten Weg-
ſpülungen gilt Aehnliches. Die ſ. Z. von Lyell und andren Geo-
logen verſuchte Berechnung des allmähligen Zurückweichens des
Niagara-Falles um angeblich Einen Fuß jährlich, wurde hinfällig,
als plötzlich im Winter 1868/69 ein mächtiger Geſteins-Einſturz den
ungeheuren Fall um mehr als 30 Fuß auf Einmal zurückweichen
machte und ſo das frühere Hufeiſen in ein Dreieck umwandelte!
Bei denjenigen Veränderungen, die man an langſam ſich hebenden
oder ſenkenden Meeres- oder Seeküſten beobachtet, tragen ſich nicht
ſelten ähnliche plötzliche oder ruckweiſe Kataſtrophen zu, welche alle
Berechnungen im Sinne des Uniformitarismus oder Quietismus zu
Schanden machen. Die Neuhebriden-Jnſel Tanna ergab, während
ihr Bodenniveau vorher in unmerklich langſamer Veränderung be-
griffen war, im vorigen Jahre in Folge eines Erdbebens mit Einem
Male eine Hebung ihres Bodens um 20 Fuß. Man denke auch
an die berühmte Fiſcherhütte von Södertelgte am Mälar-See, die,
wie man jetzt allgemein annimmt, einſt durch einen plötzlichen Berg-
rutſch verſchüttet wurde, während der unzeitgemäße Scharfſinn früherer
Unterſucher für ſie ein Alter von 80 000 Jahren herauszurechnen
verſucht hatte. 2)

Dieſer Stand der Dinge läßt überhaupt die Zahlenbeſtimmungen
der geologiſchen Chronologen als etwas höchſt Prekäres und Werth-
loſes erſcheinen. Die Abweichungen der einzelnen Berechnungs-

1) Max Eyth, Wanderbuch eines deutſchen Jngenieurs, Bd. I, Heidelberg
1871.
2) Vgl. Karſten, in den Sitzungsberichten der Berliner Geſellſch. f. An-
thropologie, Ethnologie ꝛc. 1876, S. 75 f.
20*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0317" n="307"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">IX.</hi> Das Alter des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts.</fw><lb/>
einem einzigen Jahre ein paar Jahrtau&#x017F;ende mehr in die &#x017F;charf-<lb/>
&#x017F;innigen Berechnungen eines europäi&#x017F;chen Gelehrten hinein &#x017F;chwem-<lb/>
men.&#x201F;<note place="foot" n="1)"><hi rendition="#g">Max Eyth,</hi> Wanderbuch eines deut&#x017F;chen Jngenieurs, Bd. <hi rendition="#aq">I,</hi> Heidelberg<lb/>
1871.</note> Weder die Nicht&#x017F;chlamm-Ablagerungen al&#x017F;o, noch die<lb/>
Mi&#x017F;&#x017F;i&#x017F;&#x017F;ippi-An&#x017F;chwemmungen, noch die der Oder oder des Rhein,<lb/>
noch die der Rhone oder der Tini<hi rendition="#aq">è</hi>re am Genfer See, bieten irgend-<lb/>
welche auch nur annähernd &#x017F;ichere Chronometer dar. Von den durch<lb/>
die aushöhlende Thätigkeit mächtiger Wa&#x017F;&#x017F;erfälle bewirkten Weg-<lb/>
&#x017F;pülungen gilt Aehnliches. Die &#x017F;. Z. von Lyell und andren Geo-<lb/>
logen ver&#x017F;uchte Berechnung des allmähligen Zurückweichens des<lb/>
Niagara-Falles um angeblich Einen Fuß jährlich, wurde hinfällig,<lb/>
als plötzlich im Winter 1868/69 ein mächtiger Ge&#x017F;teins-Ein&#x017F;turz den<lb/>
ungeheuren Fall um mehr als 30 Fuß auf Einmal zurückweichen<lb/>
machte und &#x017F;o das frühere Hufei&#x017F;en in ein Dreieck umwandelte!<lb/>
Bei denjenigen Veränderungen, die man an lang&#x017F;am &#x017F;ich hebenden<lb/>
oder &#x017F;enkenden Meeres- oder Seekü&#x017F;ten beobachtet, tragen &#x017F;ich nicht<lb/>
&#x017F;elten ähnliche plötzliche oder ruckwei&#x017F;e Kata&#x017F;trophen zu, welche alle<lb/>
Berechnungen im Sinne des Uniformitarismus oder Quietismus zu<lb/>
Schanden machen. Die Neuhebriden-Jn&#x017F;el Tanna ergab, während<lb/>
ihr Bodenniveau vorher in unmerklich lang&#x017F;amer Veränderung be-<lb/>
griffen war, im vorigen Jahre in Folge eines Erdbebens mit Einem<lb/>
Male eine Hebung ihres Bodens um 20 Fuß. Man denke auch<lb/>
an die berühmte Fi&#x017F;cherhütte von Södertelgte am Mälar-See, die,<lb/>
wie man jetzt allgemein annimmt, ein&#x017F;t durch einen plötzlichen Berg-<lb/>
rut&#x017F;ch ver&#x017F;chüttet wurde, während der unzeitgemäße Scharf&#x017F;inn früherer<lb/>
Unter&#x017F;ucher für &#x017F;ie ein Alter von 80 000 Jahren herauszurechnen<lb/>
ver&#x017F;ucht hatte. <note place="foot" n="2)">Vgl. <hi rendition="#g">Kar&#x017F;ten,</hi> in den Sitzungsberichten der Berliner Ge&#x017F;ell&#x017F;ch. f. An-<lb/>
thropologie, Ethnologie &#xA75B;c. 1876, S. 75 f.</note></p><lb/>
        <p>Die&#x017F;er Stand der Dinge läßt überhaupt die Zahlenbe&#x017F;timmungen<lb/>
der geologi&#x017F;chen Chronologen als etwas höch&#x017F;t Prekäres und Werth-<lb/>
lo&#x017F;es er&#x017F;cheinen. Die Abweichungen der einzelnen Berechnungs-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">20*</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[307/0317] IX. Das Alter des Menſchengeſchlechts. einem einzigen Jahre ein paar Jahrtauſende mehr in die ſcharf- ſinnigen Berechnungen eines europäiſchen Gelehrten hinein ſchwem- men.‟ 1) Weder die Nichtſchlamm-Ablagerungen alſo, noch die Miſſiſſippi-Anſchwemmungen, noch die der Oder oder des Rhein, noch die der Rhone oder der Tinière am Genfer See, bieten irgend- welche auch nur annähernd ſichere Chronometer dar. Von den durch die aushöhlende Thätigkeit mächtiger Waſſerfälle bewirkten Weg- ſpülungen gilt Aehnliches. Die ſ. Z. von Lyell und andren Geo- logen verſuchte Berechnung des allmähligen Zurückweichens des Niagara-Falles um angeblich Einen Fuß jährlich, wurde hinfällig, als plötzlich im Winter 1868/69 ein mächtiger Geſteins-Einſturz den ungeheuren Fall um mehr als 30 Fuß auf Einmal zurückweichen machte und ſo das frühere Hufeiſen in ein Dreieck umwandelte! Bei denjenigen Veränderungen, die man an langſam ſich hebenden oder ſenkenden Meeres- oder Seeküſten beobachtet, tragen ſich nicht ſelten ähnliche plötzliche oder ruckweiſe Kataſtrophen zu, welche alle Berechnungen im Sinne des Uniformitarismus oder Quietismus zu Schanden machen. Die Neuhebriden-Jnſel Tanna ergab, während ihr Bodenniveau vorher in unmerklich langſamer Veränderung be- griffen war, im vorigen Jahre in Folge eines Erdbebens mit Einem Male eine Hebung ihres Bodens um 20 Fuß. Man denke auch an die berühmte Fiſcherhütte von Södertelgte am Mälar-See, die, wie man jetzt allgemein annimmt, einſt durch einen plötzlichen Berg- rutſch verſchüttet wurde, während der unzeitgemäße Scharfſinn früherer Unterſucher für ſie ein Alter von 80 000 Jahren herauszurechnen verſucht hatte. 2) Dieſer Stand der Dinge läßt überhaupt die Zahlenbeſtimmungen der geologiſchen Chronologen als etwas höchſt Prekäres und Werth- loſes erſcheinen. Die Abweichungen der einzelnen Berechnungs- 1) Max Eyth, Wanderbuch eines deutſchen Jngenieurs, Bd. I, Heidelberg 1871. 2) Vgl. Karſten, in den Sitzungsberichten der Berliner Geſellſch. f. An- thropologie, Ethnologie ꝛc. 1876, S. 75 f. 20*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/317
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/317>, abgerufen am 24.11.2024.