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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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I. Der Urstand nach kirchlicher Ueberlieferung.
Kindlein würden nimmer so lange wie jetzt, der Muttermilch und
des Umhertragens bedurft haben. Sein Land und seine Kräuterbeete
würde der unschuldig Gebliebene "nicht nur ohne Beschwerde, sondern
wie spielend und mit dem höchsten Ergötzen bestellt haben"1). -- Zu
diesen kühnen Folgerungen Luthers aus seiner Grundthese: Ohne
Sünde kein Uebel, ohne Fall kein Verlust des Paradieses! traten
noch gewisse nicht minder merkwürdige Speculationen über eine noch
lange nach dem Falle und der Austreibung aus Eden sich hinziehende
Abenddämmerung der verschwundenen Paradiesessonne in der ältesten
Menschheitsgeschichte hinzu. Früherer dogmatischer Tradition der
Kirche verdankte er den Jmpuls zu diesen Betrachtungen weniger,
als der h. Schrift, insbesondre den die älteste Patriarchengeschichte
erzählenden Kapiteln 5--10 der Genesis, unter gleichzeitiger Ver-
werthung auch der altclassischen Sagen vom goldenen Zeitalter und
den auf es gefolgten geringeren Weltaltern. Wir kommen später
in andrem Zusammenhange, eingehender auf diese Vorstellungen
Luthers von der Patriarchenwelt als einem Nachglanze der seligen
Paradieseszeit zurück. Für jetzt haben wir die Einwirkung seiner
einseitigen Steigerung der Paradiesesgeschichte auf die ältere Lehr-
tradition seiner Kirche des Weiteren zu verfolgen.

Diese Einwirkung kann im Ganzen keine wohlthätige genannt
werden. Was schon er einseitig supranaturalistisch und mehr den
Eingebungen seiner kindlich naiven und frischen Phantasie als den
Andeutungen des Schriftworts folgend dargestellt hatte, das wird
von seinen Nachfolgern auf exegetischem und dogmatischem Gebiete
womöglich noch mehr auf die Spitze getrieben, jedenfalls in noch
bestimmterer Weise dogmatisch fixirt und gleichsam aus dem Flusse
freierer Phantasiegestaltung vorzeitig zum Erstarren gebracht. Hieher
gehören zwar weniger die immer noch ziemlich maaßvoll gehaltenen
Ausdrücke des letzten der lutherischen Symbole, der Concordienformel,

1) Luther, Tischreden von Gottes Werken, Nr. 279 (E. A., 57, 237). --
Enarrationes in Genes. cap. 1--3 (E. A., tom. I, p. 77. 80. 83. 89. 103.
128. 166).

I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung.
Kindlein würden nimmer ſo lange wie jetzt, der Muttermilch und
des Umhertragens bedurft haben. Sein Land und ſeine Kräuterbeete
würde der unſchuldig Gebliebene „nicht nur ohne Beſchwerde, ſondern
wie ſpielend und mit dem höchſten Ergötzen beſtellt haben‟1). — Zu
dieſen kühnen Folgerungen Luthers aus ſeiner Grundtheſe: Ohne
Sünde kein Uebel, ohne Fall kein Verluſt des Paradieſes! traten
noch gewiſſe nicht minder merkwürdige Speculationen über eine noch
lange nach dem Falle und der Austreibung aus Eden ſich hinziehende
Abenddämmerung der verſchwundenen Paradieſesſonne in der älteſten
Menſchheitsgeſchichte hinzu. Früherer dogmatiſcher Tradition der
Kirche verdankte er den Jmpuls zu dieſen Betrachtungen weniger,
als der h. Schrift, insbeſondre den die älteſte Patriarchengeſchichte
erzählenden Kapiteln 5—10 der Geneſis, unter gleichzeitiger Ver-
werthung auch der altclaſſiſchen Sagen vom goldenen Zeitalter und
den auf es gefolgten geringeren Weltaltern. Wir kommen ſpäter
in andrem Zuſammenhange, eingehender auf dieſe Vorſtellungen
Luthers von der Patriarchenwelt als einem Nachglanze der ſeligen
Paradieſeszeit zurück. Für jetzt haben wir die Einwirkung ſeiner
einſeitigen Steigerung der Paradieſesgeſchichte auf die ältere Lehr-
tradition ſeiner Kirche des Weiteren zu verfolgen.

Dieſe Einwirkung kann im Ganzen keine wohlthätige genannt
werden. Was ſchon er einſeitig ſupranaturaliſtiſch und mehr den
Eingebungen ſeiner kindlich naiven und friſchen Phantaſie als den
Andeutungen des Schriftworts folgend dargeſtellt hatte, das wird
von ſeinen Nachfolgern auf exegetiſchem und dogmatiſchem Gebiete
womöglich noch mehr auf die Spitze getrieben, jedenfalls in noch
beſtimmterer Weiſe dogmatiſch fixirt und gleichſam aus dem Fluſſe
freierer Phantaſiegeſtaltung vorzeitig zum Erſtarren gebracht. Hieher
gehören zwar weniger die immer noch ziemlich maaßvoll gehaltenen
Ausdrücke des letzten der lutheriſchen Symbole, der Concordienformel,

1) Luther, Tiſchreden von Gottes Werken, Nr. 279 (E. A., 57, 237). —
Enarrationes in Genes. cap. 1—3 (E. A., tom. I, p. 77. 80. 83. 89. 103.
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[21/0031] I. Der Urſtand nach kirchlicher Ueberlieferung. Kindlein würden nimmer ſo lange wie jetzt, der Muttermilch und des Umhertragens bedurft haben. Sein Land und ſeine Kräuterbeete würde der unſchuldig Gebliebene „nicht nur ohne Beſchwerde, ſondern wie ſpielend und mit dem höchſten Ergötzen beſtellt haben‟ 1). — Zu dieſen kühnen Folgerungen Luthers aus ſeiner Grundtheſe: Ohne Sünde kein Uebel, ohne Fall kein Verluſt des Paradieſes! traten noch gewiſſe nicht minder merkwürdige Speculationen über eine noch lange nach dem Falle und der Austreibung aus Eden ſich hinziehende Abenddämmerung der verſchwundenen Paradieſesſonne in der älteſten Menſchheitsgeſchichte hinzu. Früherer dogmatiſcher Tradition der Kirche verdankte er den Jmpuls zu dieſen Betrachtungen weniger, als der h. Schrift, insbeſondre den die älteſte Patriarchengeſchichte erzählenden Kapiteln 5—10 der Geneſis, unter gleichzeitiger Ver- werthung auch der altclaſſiſchen Sagen vom goldenen Zeitalter und den auf es gefolgten geringeren Weltaltern. Wir kommen ſpäter in andrem Zuſammenhange, eingehender auf dieſe Vorſtellungen Luthers von der Patriarchenwelt als einem Nachglanze der ſeligen Paradieſeszeit zurück. Für jetzt haben wir die Einwirkung ſeiner einſeitigen Steigerung der Paradieſesgeſchichte auf die ältere Lehr- tradition ſeiner Kirche des Weiteren zu verfolgen. Dieſe Einwirkung kann im Ganzen keine wohlthätige genannt werden. Was ſchon er einſeitig ſupranaturaliſtiſch und mehr den Eingebungen ſeiner kindlich naiven und friſchen Phantaſie als den Andeutungen des Schriftworts folgend dargeſtellt hatte, das wird von ſeinen Nachfolgern auf exegetiſchem und dogmatiſchem Gebiete womöglich noch mehr auf die Spitze getrieben, jedenfalls in noch beſtimmterer Weiſe dogmatiſch fixirt und gleichſam aus dem Fluſſe freierer Phantaſiegeſtaltung vorzeitig zum Erſtarren gebracht. Hieher gehören zwar weniger die immer noch ziemlich maaßvoll gehaltenen Ausdrücke des letzten der lutheriſchen Symbole, der Concordienformel, 1) Luther, Tiſchreden von Gottes Werken, Nr. 279 (E. A., 57, 237). — Enarrationes in Genes. cap. 1—3 (E. A., tom. I, p. 77. 80. 83. 89. 103. 128. 166).

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 21. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/31>, abgerufen am 24.11.2024.