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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
verfügt über gewaltigere Kräfte des Gedächtnisses, der Einbildungs-
kraft, der Combinirfähigkeit, des leichten und sichren Fortschreitens
im Sprechen, in Handgeschicklichkeiten und technischen Fertigkeiten
aller Art, welche sämmtlich in späteren Jahren eine namhafte Ver-
ringerung erfahren. Es lernt in seinen ersten acht Jahren verhält-
nißmäßig mehr, als nachher in achtzigen; es macht in jenem seinem
Lebensfrühling nach seinen Körper- wie Geisteskräften eine größere
Entwicklung durch, als in allen folgenden Entwicklungsstadien. Sollte
nicht gerade in diesen kräftigen körperlichen und geistigen Wachs-
thumsphänomenen des Menschen im Kindheitsstadium ein mikrokos-
misches Abbild jener gewaltigen physischen Zeugungs- und Lebenskraft
unsres gesammten Geschlechts während seines früheren Jugendalters
zu erblicken sein? Der Vergleich scheint insofern wenig zutreffend,
als dort greise Patriarchen, durch eine Reihe von Jahrhunderten
hindurchgegangen und umgeben von Urenkeln und Ururenkeln, hier
der rasch verfliegende goldne Lebensmorgen eines von der Mutter-
liebe zarten Sorgen bewachten Kindleins, eine Epoche von kaum so
viel Jahren als dort Jahrhunderte, in Betracht gezogen werden.
Aber nicht die lange Lebensdauer, sondern die auf langhin unver-
wüstliche Lebensfrische und Zeugungskraft jener Urväter bildet unsren
Vergleichspunkt, bildet das eigentlich Bewundernswerthe, das heils-
und weltgeschichtlich vor Allem Bedeutsame in jenem grundlegenden
Abschnitte der Menschheitsgeschichte! Zur Kürze des Kindheitsstadiums
fehlt es dabei keineswegs am entsprechenden Gegenbilde, denn so
wunderbar lang die Einzelleben, so kurz erscheint die Gesammtreihe
der Makrobier. Sie greifen gewaltig weit und tief ineinander über,
diese gigantischen Quadern des biblisch urzeitlichen Fundaments der
Menschheitsgeschichte, und doch bedeckt das festgefügte Mauerwerk
einen verhältnißmäßig nur so wenig ausgedehnten Raum!

Jst's denkbar, daß die Geschichte des Völkerlebens seit dem
Beginn der historischen Zeit aus einem zwar so starken, aber doch
so concentrirten und wenig weitverzweigten vorhistorischen Wurzelstock
erwachsen sein sollte? Genügt die Folge von nur zehn ineinander

VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
verfügt über gewaltigere Kräfte des Gedächtniſſes, der Einbildungs-
kraft, der Combinirfähigkeit, des leichten und ſichren Fortſchreitens
im Sprechen, in Handgeſchicklichkeiten und techniſchen Fertigkeiten
aller Art, welche ſämmtlich in ſpäteren Jahren eine namhafte Ver-
ringerung erfahren. Es lernt in ſeinen erſten acht Jahren verhält-
nißmäßig mehr, als nachher in achtzigen; es macht in jenem ſeinem
Lebensfrühling nach ſeinen Körper- wie Geiſteskräften eine größere
Entwicklung durch, als in allen folgenden Entwicklungsſtadien. Sollte
nicht gerade in dieſen kräftigen körperlichen und geiſtigen Wachs-
thumsphänomenen des Menſchen im Kindheitsſtadium ein mikrokos-
miſches Abbild jener gewaltigen phyſiſchen Zeugungs- und Lebenskraft
unſres geſammten Geſchlechts während ſeines früheren Jugendalters
zu erblicken ſein? Der Vergleich ſcheint inſofern wenig zutreffend,
als dort greiſe Patriarchen, durch eine Reihe von Jahrhunderten
hindurchgegangen und umgeben von Urenkeln und Ururenkeln, hier
der raſch verfliegende goldne Lebensmorgen eines von der Mutter-
liebe zarten Sorgen bewachten Kindleins, eine Epoche von kaum ſo
viel Jahren als dort Jahrhunderte, in Betracht gezogen werden.
Aber nicht die lange Lebensdauer, ſondern die auf langhin unver-
wüſtliche Lebensfriſche und Zeugungskraft jener Urväter bildet unſren
Vergleichspunkt, bildet das eigentlich Bewundernswerthe, das heils-
und weltgeſchichtlich vor Allem Bedeutſame in jenem grundlegenden
Abſchnitte der Menſchheitsgeſchichte! Zur Kürze des Kindheitsſtadiums
fehlt es dabei keineswegs am entſprechenden Gegenbilde, denn ſo
wunderbar lang die Einzelleben, ſo kurz erſcheint die Geſammtreihe
der Makrobier. Sie greifen gewaltig weit und tief ineinander über,
dieſe gigantiſchen Quadern des bibliſch urzeitlichen Fundaments der
Menſchheitsgeſchichte, und doch bedeckt das feſtgefügte Mauerwerk
einen verhältnißmäßig nur ſo wenig ausgedehnten Raum!

Jſt’s denkbar, daß die Geſchichte des Völkerlebens ſeit dem
Beginn der hiſtoriſchen Zeit aus einem zwar ſo ſtarken, aber doch
ſo concentrirten und wenig weitverzweigten vorhiſtoriſchen Wurzelſtock
erwachſen ſein ſollte? Genügt die Folge von nur zehn ineinander

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[287/0297] VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen. verfügt über gewaltigere Kräfte des Gedächtniſſes, der Einbildungs- kraft, der Combinirfähigkeit, des leichten und ſichren Fortſchreitens im Sprechen, in Handgeſchicklichkeiten und techniſchen Fertigkeiten aller Art, welche ſämmtlich in ſpäteren Jahren eine namhafte Ver- ringerung erfahren. Es lernt in ſeinen erſten acht Jahren verhält- nißmäßig mehr, als nachher in achtzigen; es macht in jenem ſeinem Lebensfrühling nach ſeinen Körper- wie Geiſteskräften eine größere Entwicklung durch, als in allen folgenden Entwicklungsſtadien. Sollte nicht gerade in dieſen kräftigen körperlichen und geiſtigen Wachs- thumsphänomenen des Menſchen im Kindheitsſtadium ein mikrokos- miſches Abbild jener gewaltigen phyſiſchen Zeugungs- und Lebenskraft unſres geſammten Geſchlechts während ſeines früheren Jugendalters zu erblicken ſein? Der Vergleich ſcheint inſofern wenig zutreffend, als dort greiſe Patriarchen, durch eine Reihe von Jahrhunderten hindurchgegangen und umgeben von Urenkeln und Ururenkeln, hier der raſch verfliegende goldne Lebensmorgen eines von der Mutter- liebe zarten Sorgen bewachten Kindleins, eine Epoche von kaum ſo viel Jahren als dort Jahrhunderte, in Betracht gezogen werden. Aber nicht die lange Lebensdauer, ſondern die auf langhin unver- wüſtliche Lebensfriſche und Zeugungskraft jener Urväter bildet unſren Vergleichspunkt, bildet das eigentlich Bewundernswerthe, das heils- und weltgeſchichtlich vor Allem Bedeutſame in jenem grundlegenden Abſchnitte der Menſchheitsgeſchichte! Zur Kürze des Kindheitsſtadiums fehlt es dabei keineswegs am entſprechenden Gegenbilde, denn ſo wunderbar lang die Einzelleben, ſo kurz erſcheint die Geſammtreihe der Makrobier. Sie greifen gewaltig weit und tief ineinander über, dieſe gigantiſchen Quadern des bibliſch urzeitlichen Fundaments der Menſchheitsgeſchichte, und doch bedeckt das feſtgefügte Mauerwerk einen verhältnißmäßig nur ſo wenig ausgedehnten Raum! Jſt’s denkbar, daß die Geſchichte des Völkerlebens ſeit dem Beginn der hiſtoriſchen Zeit aus einem zwar ſo ſtarken, aber doch ſo concentrirten und wenig weitverzweigten vorhiſtoriſchen Wurzelſtock erwachſen ſein ſollte? Genügt die Folge von nur zehn ineinander

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 287. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/297>, abgerufen am 22.11.2024.