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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
Jm Grunde erscheint eben diese Mythendeutung auch der Mehrzahl
der oben besprochnen cyklischen Zahlentheorien beigemengt, deßgleichen
jenen Versuchen von Rosenmüller und Friedreich, die Patriarchen-
namen als mehr oder weniger ungeschickt gehandhabte Mittel zur
Ausfüllung leerer Zeiträume der ältesten Geschichte zu erweisen.
Gemeinsamer Grund für alle diese Annahmen ist die Scheu vor
dem Zugeständnisse, daß die individuellen menschlichen Lebensalter
in jener Urzeit Jahrhunderte mehr als jetzt betragen haben sollten,
während doch die Gesammtdauer der betr. geschichtlichen Zeiträume
eine beträchtlich viel kürzere gewesen sei, als nach den meisten Tradi-
tionen des Heidenthums und zumal nach der Darstellung moderner
Geologen und Archäologen. Die einzelnen Lebensalter erscheinen zu
bedenklich lang, der ganze Zeitraum von Adam bis Abraham aber
zu bedenklich kurz: daher denn die Vorliebe sei es für cyklische, sei
es für mythische Auffassung des ganzen Abschnitts. -- Wie aber,
wenn in dieser doppelten Voraussetzung ein principieller Grund-
irrthum, ein grundlegender, das ganze Hypothesennetz der Mythen-
theorie als überflüssig erweisender Rechenfehler enthalten wäre? Wenn
sowohl die physiologische Wissenschaft mit ihrer Feststellung eines
unveränderlichen menschlichen Lebensmaximums für alle Perioden
der irdischen Geschichte, als auch die paläontologische Wissenschaft
mit ihrer Uebertragung von Erdbildungsgesetzen auf menschheitliche
Entwicklungen sich im Unrecht befänden? Wenn auch hier Augustins
Grundsatz: Distingue tempora etc. Anwendung zu finden hätte?
Uns will in der That Beides als voreilig behauptet vorkommen:
daß in allen Zeiten rückwärts keine andre Altersgrenze für unser
Leben als die jetzige existirt haben könne, und daß das Kindesalter
unsres Geschlechts in vieltausendjährigen Zeiträumen verlaufen sein
müsse. Unseren Widerspruch gegen die letztere Annahme wird der
folgende Abschnitt zu begründen haben. Hier handelt es sich noch

graphie, I, 9 ff.; Hartmann, v. Bohlen, Tuch, Knobel in ihren Genesis-
commentaren; Winer, Realwörterb., A. "Patriarchen"; Ewald, Gesch. des
Volks Jsr. I, 314 ff.; Fürst, Gesch. der bibl. Lit., I, 84.

VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
Jm Grunde erſcheint eben dieſe Mythendeutung auch der Mehrzahl
der oben beſprochnen cykliſchen Zahlentheorien beigemengt, deßgleichen
jenen Verſuchen von Roſenmüller und Friedreich, die Patriarchen-
namen als mehr oder weniger ungeſchickt gehandhabte Mittel zur
Ausfüllung leerer Zeiträume der älteſten Geſchichte zu erweiſen.
Gemeinſamer Grund für alle dieſe Annahmen iſt die Scheu vor
dem Zugeſtändniſſe, daß die individuellen menſchlichen Lebensalter
in jener Urzeit Jahrhunderte mehr als jetzt betragen haben ſollten,
während doch die Geſammtdauer der betr. geſchichtlichen Zeiträume
eine beträchtlich viel kürzere geweſen ſei, als nach den meiſten Tradi-
tionen des Heidenthums und zumal nach der Darſtellung moderner
Geologen und Archäologen. Die einzelnen Lebensalter erſcheinen zu
bedenklich lang, der ganze Zeitraum von Adam bis Abraham aber
zu bedenklich kurz: daher denn die Vorliebe ſei es für cykliſche, ſei
es für mythiſche Auffaſſung des ganzen Abſchnitts. — Wie aber,
wenn in dieſer doppelten Vorausſetzung ein principieller Grund-
irrthum, ein grundlegender, das ganze Hypotheſennetz der Mythen-
theorie als überflüſſig erweiſender Rechenfehler enthalten wäre? Wenn
ſowohl die phyſiologiſche Wiſſenſchaft mit ihrer Feſtſtellung eines
unveränderlichen menſchlichen Lebensmaximums für alle Perioden
der irdiſchen Geſchichte, als auch die paläontologiſche Wiſſenſchaft
mit ihrer Uebertragung von Erdbildungsgeſetzen auf menſchheitliche
Entwicklungen ſich im Unrecht befänden? Wenn auch hier Auguſtins
Grundſatz: Distingue tempora etc. Anwendung zu finden hätte?
Uns will in der That Beides als voreilig behauptet vorkommen:
daß in allen Zeiten rückwärts keine andre Altersgrenze für unſer
Leben als die jetzige exiſtirt haben könne, und daß das Kindesalter
unſres Geſchlechts in vieltauſendjährigen Zeiträumen verlaufen ſein
müſſe. Unſeren Widerſpruch gegen die letztere Annahme wird der
folgende Abſchnitt zu begründen haben. Hier handelt es ſich noch

graphie, I, 9 ff.; Hartmann, v. Bohlen, Tuch, Knobel in ihren Geneſis-
commentaren; Winer, Realwörterb., A. „Patriarchen‟; Ewald, Geſch. des
Volks Jsr. I, 314 ff.; Fürſt, Geſch. der bibl. Lit., I, 84.
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[267/0277] VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen. Jm Grunde erſcheint eben dieſe Mythendeutung auch der Mehrzahl der oben beſprochnen cykliſchen Zahlentheorien beigemengt, deßgleichen jenen Verſuchen von Roſenmüller und Friedreich, die Patriarchen- namen als mehr oder weniger ungeſchickt gehandhabte Mittel zur Ausfüllung leerer Zeiträume der älteſten Geſchichte zu erweiſen. Gemeinſamer Grund für alle dieſe Annahmen iſt die Scheu vor dem Zugeſtändniſſe, daß die individuellen menſchlichen Lebensalter in jener Urzeit Jahrhunderte mehr als jetzt betragen haben ſollten, während doch die Geſammtdauer der betr. geſchichtlichen Zeiträume eine beträchtlich viel kürzere geweſen ſei, als nach den meiſten Tradi- tionen des Heidenthums und zumal nach der Darſtellung moderner Geologen und Archäologen. Die einzelnen Lebensalter erſcheinen zu bedenklich lang, der ganze Zeitraum von Adam bis Abraham aber zu bedenklich kurz: daher denn die Vorliebe ſei es für cykliſche, ſei es für mythiſche Auffaſſung des ganzen Abſchnitts. — Wie aber, wenn in dieſer doppelten Vorausſetzung ein principieller Grund- irrthum, ein grundlegender, das ganze Hypotheſennetz der Mythen- theorie als überflüſſig erweiſender Rechenfehler enthalten wäre? Wenn ſowohl die phyſiologiſche Wiſſenſchaft mit ihrer Feſtſtellung eines unveränderlichen menſchlichen Lebensmaximums für alle Perioden der irdiſchen Geſchichte, als auch die paläontologiſche Wiſſenſchaft mit ihrer Uebertragung von Erdbildungsgeſetzen auf menſchheitliche Entwicklungen ſich im Unrecht befänden? Wenn auch hier Auguſtins Grundſatz: Distingue tempora etc. Anwendung zu finden hätte? Uns will in der That Beides als voreilig behauptet vorkommen: daß in allen Zeiten rückwärts keine andre Altersgrenze für unſer Leben als die jetzige exiſtirt haben könne, und daß das Kindesalter unſres Geſchlechts in vieltauſendjährigen Zeiträumen verlaufen ſein müſſe. Unſeren Widerſpruch gegen die letztere Annahme wird der folgende Abſchnitt zu begründen haben. Hier handelt es ſich noch 2) 2) graphie, I, 9 ff.; Hartmann, v. Bohlen, Tuch, Knobel in ihren Geneſis- commentaren; Winer, Realwörterb., A. „Patriarchen‟; Ewald, Geſch. des Volks Jsr. I, 314 ff.; Fürſt, Geſch. der bibl. Lit., I, 84.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 267. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/277>, abgerufen am 22.11.2024.