Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
druck findende Gesetz ist ein unerbittliches. Hie und da findet ein
Uebergreifen der charakteristischen Ziffern der einen Reihe in die der
andern, und zwar der zunächst angrenzenden, statt; aber erheblichere
Ausnahmen kommen nicht vor. Kein Noachide erhebt sich zum
sethitischen Minimalalter von 777 Jahren; kein Abrahamide erreicht
die Normalgrenze von 200 Jahren, bis zu welcher (mit Ausnahme
zweier Fälle) die Lebensdauer der Noachiden herabgemindert erscheint.
Jmmerhin scheint die zwischen 110 und 180 Jahren schwankende
Altersgrenze der Abrahamiden -- vom Erzähler der Genesis un-
zweifelhaft als eine für die damalige Zeit noch vorherrschend giltige
Durchschnittsziffer aufgefaßt -- in der jetzt noch andauernden Periode
menschlicher Geschichte als seltener Ausnahmefall noch zeit-
weilig in Kraft zu treten.
Man hat dieß Jahrhunderte lang
in aller Unbefangenheit angenommen und als wissenschaftlich con-
statirten Erfahrungssatz festgehalten. Neuestens freilich sind medi-
cinischerseits und historisch-kritischerseits Zweifel an der Thatsache,
daß noch so beträchtlich hoch hinausgehende Ueberschreitungen des
hundertsten Lebensjahrs stattfänden, ausgesprochen woden. Es bleibe,
haben die Skeptiker behauptet, in Wahrheit schlechtweg bei jenem
Worte des 90. Psalmes, oder dem ähnlichen bei Jesus Sirach
18, 9; das Corpus juris behalte vollkommen Recht mit seinem
Grundsatze: "Vivere usque ad centum annos quilibet prae-
sumitur, nisi probatur mortuus"
; nur ganz unerhebliche Ueber-
schreitungen der darin gezogenen Altersgrenze seien wirklich constatirt.
-- Da es nicht unwichtig erscheint, daß das thatsächliche Verhältniß
zwischen der Jetztzeit und den vormosaischen Epochen bestimmt fest-
gestellt werde, werden wir vorerst diese Zweifel mit dem vorher
allgemein Angenommenen etwas genauer confrontiren. Alsdann erst
werden wir uns zur Beurtheilung der Frage nach der Glaub-
würdigkeit jener staunenswerth hohen Altersziffern der Urzeit sowie
ihrer wahrscheinlichen Ursachen und heilsgeschichtlichen Bedeutung
wenden.

1. Als ungefährer äußerster Zielpunkt menschlicher Lebenslänge

VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen.
druck findende Geſetz iſt ein unerbittliches. Hie und da findet ein
Uebergreifen der charakteriſtiſchen Ziffern der einen Reihe in die der
andern, und zwar der zunächſt angrenzenden, ſtatt; aber erheblichere
Ausnahmen kommen nicht vor. Kein Noachide erhebt ſich zum
ſethitiſchen Minimalalter von 777 Jahren; kein Abrahamide erreicht
die Normalgrenze von 200 Jahren, bis zu welcher (mit Ausnahme
zweier Fälle) die Lebensdauer der Noachiden herabgemindert erſcheint.
Jmmerhin ſcheint die zwiſchen 110 und 180 Jahren ſchwankende
Altersgrenze der Abrahamiden — vom Erzähler der Geneſis un-
zweifelhaft als eine für die damalige Zeit noch vorherrſchend giltige
Durchſchnittsziffer aufgefaßt — in der jetzt noch andauernden Periode
menſchlicher Geſchichte als ſeltener Ausnahmefall noch zeit-
weilig in Kraft zu treten.
Man hat dieß Jahrhunderte lang
in aller Unbefangenheit angenommen und als wiſſenſchaftlich con-
ſtatirten Erfahrungsſatz feſtgehalten. Neueſtens freilich ſind medi-
ciniſcherſeits und hiſtoriſch-kritiſcherſeits Zweifel an der Thatſache,
daß noch ſo beträchtlich hoch hinausgehende Ueberſchreitungen des
hundertſten Lebensjahrs ſtattfänden, ausgeſprochen woden. Es bleibe,
haben die Skeptiker behauptet, in Wahrheit ſchlechtweg bei jenem
Worte des 90. Pſalmes, oder dem ähnlichen bei Jeſus Sirach
18, 9; das Corpus juris behalte vollkommen Recht mit ſeinem
Grundſatze: „Vivere usque ad centum annos quilibet prae-
sumitur, nisi probatur mortuus‟
; nur ganz unerhebliche Ueber-
ſchreitungen der darin gezogenen Altersgrenze ſeien wirklich conſtatirt.
— Da es nicht unwichtig erſcheint, daß das thatſächliche Verhältniß
zwiſchen der Jetztzeit und den vormoſaiſchen Epochen beſtimmt feſt-
geſtellt werde, werden wir vorerſt dieſe Zweifel mit dem vorher
allgemein Angenommenen etwas genauer confrontiren. Alsdann erſt
werden wir uns zur Beurtheilung der Frage nach der Glaub-
würdigkeit jener ſtaunenswerth hohen Altersziffern der Urzeit ſowie
ihrer wahrſcheinlichen Urſachen und heilsgeſchichtlichen Bedeutung
wenden.

1. Als ungefährer äußerſter Zielpunkt menſchlicher Lebenslänge

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0255" n="245"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VIII.</hi> Die Langlebigkeit der Patriarchen.</fw><lb/>
druck findende Ge&#x017F;etz i&#x017F;t ein unerbittliches. Hie und da findet ein<lb/>
Uebergreifen der charakteri&#x017F;ti&#x017F;chen Ziffern der einen Reihe in die der<lb/>
andern, und zwar der zunäch&#x017F;t angrenzenden, &#x017F;tatt; aber erheblichere<lb/>
Ausnahmen kommen nicht vor. Kein Noachide erhebt &#x017F;ich zum<lb/>
&#x017F;ethiti&#x017F;chen Minimalalter von 777 Jahren; kein Abrahamide erreicht<lb/>
die Normalgrenze von 200 Jahren, bis zu welcher (mit Ausnahme<lb/>
zweier Fälle) die Lebensdauer der Noachiden herabgemindert er&#x017F;cheint.<lb/>
Jmmerhin &#x017F;cheint die zwi&#x017F;chen 110 und 180 Jahren &#x017F;chwankende<lb/>
Altersgrenze der Abrahamiden &#x2014; vom Erzähler der Gene&#x017F;is un-<lb/>
zweifelhaft als eine für die damalige Zeit noch vorherr&#x017F;chend giltige<lb/>
Durch&#x017F;chnittsziffer aufgefaßt &#x2014; in der jetzt noch andauernden Periode<lb/>
men&#x017F;chlicher Ge&#x017F;chichte <hi rendition="#g">als &#x017F;eltener Ausnahmefall noch zeit-<lb/>
weilig in Kraft zu treten.</hi> Man hat dieß Jahrhunderte lang<lb/>
in aller Unbefangenheit angenommen und als wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftlich con-<lb/>
&#x017F;tatirten Erfahrungs&#x017F;atz fe&#x017F;tgehalten. Neue&#x017F;tens freilich &#x017F;ind medi-<lb/>
cini&#x017F;cher&#x017F;eits und hi&#x017F;tori&#x017F;ch-kriti&#x017F;cher&#x017F;eits Zweifel an der That&#x017F;ache,<lb/>
daß noch &#x017F;o beträchtlich hoch hinausgehende Ueber&#x017F;chreitungen des<lb/>
hundert&#x017F;ten Lebensjahrs &#x017F;tattfänden, ausge&#x017F;prochen woden. Es bleibe,<lb/>
haben die Skeptiker behauptet, in Wahrheit &#x017F;chlechtweg bei jenem<lb/>
Worte des 90. P&#x017F;almes, oder dem ähnlichen bei Je&#x017F;us Sirach<lb/>
18, 9; das Corpus juris behalte vollkommen Recht mit &#x017F;einem<lb/>
Grund&#x017F;atze: <hi rendition="#aq">&#x201E;Vivere usque ad centum annos quilibet prae-<lb/>
sumitur, nisi probatur mortuus&#x201F;</hi>; nur ganz unerhebliche Ueber-<lb/>
&#x017F;chreitungen der darin gezogenen Altersgrenze &#x017F;eien wirklich con&#x017F;tatirt.<lb/>
&#x2014; Da es nicht unwichtig er&#x017F;cheint, daß das that&#x017F;ächliche Verhältniß<lb/>
zwi&#x017F;chen der Jetztzeit und den vormo&#x017F;ai&#x017F;chen Epochen be&#x017F;timmt fe&#x017F;t-<lb/>
ge&#x017F;tellt werde, werden wir vorer&#x017F;t die&#x017F;e Zweifel mit dem vorher<lb/>
allgemein Angenommenen etwas genauer confrontiren. Alsdann er&#x017F;t<lb/>
werden wir uns zur Beurtheilung der Frage nach der Glaub-<lb/>
würdigkeit jener &#x017F;taunenswerth hohen Altersziffern der Urzeit &#x017F;owie<lb/>
ihrer wahr&#x017F;cheinlichen Ur&#x017F;achen und heilsge&#x017F;chichtlichen Bedeutung<lb/>
wenden.</p><lb/>
        <p>1. Als ungefährer äußer&#x017F;ter Zielpunkt men&#x017F;chlicher Lebenslänge<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[245/0255] VIII. Die Langlebigkeit der Patriarchen. druck findende Geſetz iſt ein unerbittliches. Hie und da findet ein Uebergreifen der charakteriſtiſchen Ziffern der einen Reihe in die der andern, und zwar der zunächſt angrenzenden, ſtatt; aber erheblichere Ausnahmen kommen nicht vor. Kein Noachide erhebt ſich zum ſethitiſchen Minimalalter von 777 Jahren; kein Abrahamide erreicht die Normalgrenze von 200 Jahren, bis zu welcher (mit Ausnahme zweier Fälle) die Lebensdauer der Noachiden herabgemindert erſcheint. Jmmerhin ſcheint die zwiſchen 110 und 180 Jahren ſchwankende Altersgrenze der Abrahamiden — vom Erzähler der Geneſis un- zweifelhaft als eine für die damalige Zeit noch vorherrſchend giltige Durchſchnittsziffer aufgefaßt — in der jetzt noch andauernden Periode menſchlicher Geſchichte als ſeltener Ausnahmefall noch zeit- weilig in Kraft zu treten. Man hat dieß Jahrhunderte lang in aller Unbefangenheit angenommen und als wiſſenſchaftlich con- ſtatirten Erfahrungsſatz feſtgehalten. Neueſtens freilich ſind medi- ciniſcherſeits und hiſtoriſch-kritiſcherſeits Zweifel an der Thatſache, daß noch ſo beträchtlich hoch hinausgehende Ueberſchreitungen des hundertſten Lebensjahrs ſtattfänden, ausgeſprochen woden. Es bleibe, haben die Skeptiker behauptet, in Wahrheit ſchlechtweg bei jenem Worte des 90. Pſalmes, oder dem ähnlichen bei Jeſus Sirach 18, 9; das Corpus juris behalte vollkommen Recht mit ſeinem Grundſatze: „Vivere usque ad centum annos quilibet prae- sumitur, nisi probatur mortuus‟; nur ganz unerhebliche Ueber- ſchreitungen der darin gezogenen Altersgrenze ſeien wirklich conſtatirt. — Da es nicht unwichtig erſcheint, daß das thatſächliche Verhältniß zwiſchen der Jetztzeit und den vormoſaiſchen Epochen beſtimmt feſt- geſtellt werde, werden wir vorerſt dieſe Zweifel mit dem vorher allgemein Angenommenen etwas genauer confrontiren. Alsdann erſt werden wir uns zur Beurtheilung der Frage nach der Glaub- würdigkeit jener ſtaunenswerth hohen Altersziffern der Urzeit ſowie ihrer wahrſcheinlichen Urſachen und heilsgeſchichtlichen Bedeutung wenden. 1. Als ungefährer äußerſter Zielpunkt menſchlicher Lebenslänge

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/255
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/255>, abgerufen am 25.11.2024.