Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen. reiche und solide geschichtliche Belege für ein Herabsinken seßhafterVölker oder halbcivilisirter Nomadenstämme zur Stufe wilder, bloß von Jagd oder Fischerei lebender Horden beigebracht werden können, so wenig ist je ein Beispiel vom Gegentheil, nemlich vom selb- ständig und ohne Zwang vollzogenem Fortschritt von wilder zu seß- hafter Lebenssitte beobachtet worden.1) Die Culturfortschritts-Stufen- leiter: Jäger (Fischer), Nomaden, Ackerbauer existirt nur in der Phantasie gewisser Historiker und Archäologen. Es ist der reine Schwindel, wenn Lubbock jüngst sie durch gewisse Erscheinungen aus dem Leben der Ameisen (!) zu stützen versucht hat. Sie hat eben- sowenig einen Grund in wirklichen Thatsachen der Völkerkunde, wie jenes andre dreistufige Schema: Stein-, Bronze-, Eisenzeit durch sichere archäologische Thatsachen gestützt wird (vgl. unten). Nord- amerikanische Jndianerstämme wie die Jrokesen, Cherokesen, Semi- nolen, Sioux u. AA. mögen neuerdings nach und nach von früheren ausschließlichen Jagdbetrieb zu seßhaftem und geordnetem Ackerbauer- leben übergegangen sein:2) daß dieß lediglich unter Einwirkung des angloamerikanischen christlichen Culturlebens, also zwangsweise und nicht etwa aus eigener Jnitiative der Stämme, geschehen ist, steht ganz ebenso fest, wie die ähnlichen Thatsachen civilisirender Ein- wirkung der modernen christlichen Völkerwelt auf polynesische, indische, süd- und westafrikanische Stämme. Der Satz des Erzbischof Whately bleibt, soweit er nur diesen speciellen Punkt, das Uebergehen von bloßer Jägerei zu gerregelteren Lebenssitten betrifft, ganz zu Rechte bestehen, mag man ihm immerhin sonst, besonders was einzelne technische Fortschritte etc. angeht, manche Einschränkung angedeihen zu lassen haben. Notorische Beispiele von Degradation und Entartung haben 1) Vgl. besonders M. Much, Ueber den Ackerbau der Germanen, in den "Mittheilungen der anthropol. Gesellschaft zu Wien", Bd. VIII, 1879, Nr. 7--9. 2) Siehe bes. G. Gerland, Die Zukunft der Jndianer Nordamerika's, --
im "Globus" 1879, Nr. XV. XXI. XXII. VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen. reiche und ſolide geſchichtliche Belege für ein Herabſinken ſeßhafterVölker oder halbciviliſirter Nomadenſtämme zur Stufe wilder, bloß von Jagd oder Fiſcherei lebender Horden beigebracht werden können, ſo wenig iſt je ein Beiſpiel vom Gegentheil, nemlich vom ſelb- ſtändig und ohne Zwang vollzogenem Fortſchritt von wilder zu ſeß- hafter Lebensſitte beobachtet worden.1) Die Culturfortſchritts-Stufen- leiter: Jäger (Fiſcher), Nomaden, Ackerbauer exiſtirt nur in der Phantaſie gewiſſer Hiſtoriker und Archäologen. Es iſt der reine Schwindel, wenn Lubbock jüngſt ſie durch gewiſſe Erſcheinungen aus dem Leben der Ameiſen (!) zu ſtützen verſucht hat. Sie hat eben- ſowenig einen Grund in wirklichen Thatſachen der Völkerkunde, wie jenes andre dreiſtufige Schema: Stein-, Bronze-, Eiſenzeit durch ſichere archäologiſche Thatſachen geſtützt wird (vgl. unten). Nord- amerikaniſche Jndianerſtämme wie die Jrokeſen, Cherokeſen, Semi- nolen, Sioux u. AA. mögen neuerdings nach und nach von früheren ausſchließlichen Jagdbetrieb zu ſeßhaftem und geordnetem Ackerbauer- leben übergegangen ſein:2) daß dieß lediglich unter Einwirkung des angloamerikaniſchen chriſtlichen Culturlebens, alſo zwangsweiſe und nicht etwa aus eigener Jnitiative der Stämme, geſchehen iſt, ſteht ganz ebenſo feſt, wie die ähnlichen Thatſachen civiliſirender Ein- wirkung der modernen chriſtlichen Völkerwelt auf polyneſiſche, indiſche, ſüd- und weſtafrikaniſche Stämme. Der Satz des Erzbiſchof Whately bleibt, ſoweit er nur dieſen ſpeciellen Punkt, das Uebergehen von bloßer Jägerei zu gerregelteren Lebensſitten betrifft, ganz zu Rechte beſtehen, mag man ihm immerhin ſonſt, beſonders was einzelne techniſche Fortſchritte ꝛc. angeht, manche Einſchränkung angedeihen zu laſſen haben. Notoriſche Beiſpiele von Degradation und Entartung haben 1) Vgl. beſonders M. Much, Ueber den Ackerbau der Germanen, in den „Mittheilungen der anthropol. Geſellſchaft zu Wien‟, Bd. VIII, 1879, Nr. 7—9. 2) Siehe beſ. G. Gerland, Die Zukunft der Jndianer Nordamerika’s, —
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VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
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Völker oder halbciviliſirter Nomadenſtämme zur Stufe wilder, bloß
von Jagd oder Fiſcherei lebender Horden beigebracht werden können,
ſo wenig iſt je ein Beiſpiel vom Gegentheil, nemlich vom ſelb-
ſtändig und ohne Zwang vollzogenem Fortſchritt von wilder zu ſeß-
hafter Lebensſitte beobachtet worden. 1) Die Culturfortſchritts-Stufen-
leiter: Jäger (Fiſcher), Nomaden, Ackerbauer exiſtirt nur in der
Phantaſie gewiſſer Hiſtoriker und Archäologen. Es iſt der reine
Schwindel, wenn Lubbock jüngſt ſie durch gewiſſe Erſcheinungen aus
dem Leben der Ameiſen (!) zu ſtützen verſucht hat. Sie hat eben-
ſowenig einen Grund in wirklichen Thatſachen der Völkerkunde, wie
jenes andre dreiſtufige Schema: Stein-, Bronze-, Eiſenzeit durch
ſichere archäologiſche Thatſachen geſtützt wird (vgl. unten). Nord-
amerikaniſche Jndianerſtämme wie die Jrokeſen, Cherokeſen, Semi-
nolen, Sioux u. AA. mögen neuerdings nach und nach von früheren
ausſchließlichen Jagdbetrieb zu ſeßhaftem und geordnetem Ackerbauer-
leben übergegangen ſein: 2) daß dieß lediglich unter Einwirkung des
angloamerikaniſchen chriſtlichen Culturlebens, alſo zwangsweiſe und
nicht etwa aus eigener Jnitiative der Stämme, geſchehen iſt, ſteht
ganz ebenſo feſt, wie die ähnlichen Thatſachen civiliſirender Ein-
wirkung der modernen chriſtlichen Völkerwelt auf polyneſiſche, indiſche,
ſüd- und weſtafrikaniſche Stämme. Der Satz des Erzbiſchof Whately
bleibt, ſoweit er nur dieſen ſpeciellen Punkt, das Uebergehen von
bloßer Jägerei zu gerregelteren Lebensſitten betrifft, ganz zu Rechte
beſtehen, mag man ihm immerhin ſonſt, beſonders was einzelne
techniſche Fortſchritte ꝛc. angeht, manche Einſchränkung angedeihen zu
laſſen haben.
Notoriſche Beiſpiele von Degradation und Entartung haben
wir ſonach einem jeden der hier betrachteten Gebiete: der Sprach-
1) Vgl. beſonders M. Much, Ueber den Ackerbau der Germanen, in den
„Mittheilungen der anthropol. Geſellſchaft zu Wien‟, Bd. VIII, 1879, Nr. 7—9.
2) Siehe beſ. G. Gerland, Die Zukunft der Jndianer Nordamerika’s, —
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