Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

Bild:
<< vorherige Seite

VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen.
wie in sittlicher und cultureller Hinsicht bessere Vergangenheit spielen
überhaupt im Sagenkreise so zahlreicher Völker aller Erdtheile eine
Rolle, daß es kaum als ein übereilter Schluß erscheint, wenn man
schon allein auf Grund dieser nationalen Ueberlieferungen das
Phänomen der Wildheit im Allgemeinen als ein nicht-ursprüngliches
bezeichnet. Nicht ursprüngliche Wildheit, sondern Verwilderung ist
das Wesen der heutigen s. g. Naturvölker. Dieselben sind wahr-
scheinlich ohne Ausnahme Repräsentanten nicht jugendlicher Urkraft
sondern greisenhafter Verkommenheit und zugleich räubermäßiger Ent-
artung unseres Geschlechts.1) Auf jeden Fall ist es eine total un-
berechtigte und unwissenschaftliche Verallgemeinerung, deren sich die-
jenigen schuldig machen, welche bei Betrachtung dieses oder jenes
heutigen "Naturvolks" ohne Weiteres in Darwins bekannte Voraus-
setzung von der Gleichartigkeit der heutigen Feuerländer mit den
einstigen Urbewohnern der britischen Jnseln einstimmen. Das Problem
ist ein viel zu complicirtes, als daß es mit so wohlfeilen, von der
Oberfläche abgeschöpften Analogien erledigt werden könnte; und vor-
sichtigere Vertreter des naturalistischen Standpunkts, wie z. B.
Darwin's Freund und philosophischer Lehrmeister Herbert Spencer,
haben wohlweislich davor gewarnt, den gegenwärtigen Zustand wilder
Völker unbedachtsamerweise als Maaßstab für die allgemeine Ur-
beschaffenheit der Menschheit zu gebrauchen.2)

Schließlich ist, was schon früher über die thatsächliche Unnach-
weisbarkeit irgend eines Falles von selbständigem Sichemporschwingen
wilder Jägerstämme zur Stufe von Hirten- oder Ackerbau-Völkern
gesagt wurde, hier nochmals in Erinnerung zu bringen. So zahl-

1) Treffend sagt J. P. Lange (Ueber die Risse und Zerklüftungen der
heutigen Gesellschaft, 1872, S. 25): "Die Wilden machen sich untereinander zum
bloßen Wild, und das ist der Untergung der Menschheit, nimmermehr ihr Auf-
gang."
2) Vgl. Max Müller in den "Hibbert Lectures", l. c. (III, 65), der
diese Spencersche Mahnung zur Vorsicht ganz und gar billigt und an seinem Theile
unterstützt.

VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
wie in ſittlicher und cultureller Hinſicht beſſere Vergangenheit ſpielen
überhaupt im Sagenkreiſe ſo zahlreicher Völker aller Erdtheile eine
Rolle, daß es kaum als ein übereilter Schluß erſcheint, wenn man
ſchon allein auf Grund dieſer nationalen Ueberlieferungen das
Phänomen der Wildheit im Allgemeinen als ein nicht-urſprüngliches
bezeichnet. Nicht urſprüngliche Wildheit, ſondern Verwilderung iſt
das Weſen der heutigen ſ. g. Naturvölker. Dieſelben ſind wahr-
ſcheinlich ohne Ausnahme Repräſentanten nicht jugendlicher Urkraft
ſondern greiſenhafter Verkommenheit und zugleich räubermäßiger Ent-
artung unſeres Geſchlechts.1) Auf jeden Fall iſt es eine total un-
berechtigte und unwiſſenſchaftliche Verallgemeinerung, deren ſich die-
jenigen ſchuldig machen, welche bei Betrachtung dieſes oder jenes
heutigen „Naturvolks‟ ohne Weiteres in Darwins bekannte Voraus-
ſetzung von der Gleichartigkeit der heutigen Feuerländer mit den
einſtigen Urbewohnern der britiſchen Jnſeln einſtimmen. Das Problem
iſt ein viel zu complicirtes, als daß es mit ſo wohlfeilen, von der
Oberfläche abgeſchöpften Analogien erledigt werden könnte; und vor-
ſichtigere Vertreter des naturaliſtiſchen Standpunkts, wie z. B.
Darwin’s Freund und philoſophiſcher Lehrmeiſter Herbert Spencer,
haben wohlweislich davor gewarnt, den gegenwärtigen Zuſtand wilder
Völker unbedachtſamerweiſe als Maaßſtab für die allgemeine Ur-
beſchaffenheit der Menſchheit zu gebrauchen.2)

Schließlich iſt, was ſchon früher über die thatſächliche Unnach-
weisbarkeit irgend eines Falles von ſelbſtändigem Sichemporſchwingen
wilder Jägerſtämme zur Stufe von Hirten- oder Ackerbau-Völkern
geſagt wurde, hier nochmals in Erinnerung zu bringen. So zahl-

1) Treffend ſagt J. P. Lange (Ueber die Riſſe und Zerklüftungen der
heutigen Geſellſchaft, 1872, S. 25): „Die Wilden machen ſich untereinander zum
bloßen Wild, und das iſt der Untergung der Menſchheit, nimmermehr ihr Auf-
gang.‟
2) Vgl. Max Müller in den „Hibbert Lectures‟, l. c. (III, 65), der
dieſe Spencerſche Mahnung zur Vorſicht ganz und gar billigt und an ſeinem Theile
unterſtützt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0223" n="213"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">VI.</hi> Sprach-, religions- und culturge&#x017F;chichtliche Jn&#x017F;tanzen.</fw><lb/>
wie in &#x017F;ittlicher und cultureller Hin&#x017F;icht be&#x017F;&#x017F;ere Vergangenheit &#x017F;pielen<lb/>
überhaupt im Sagenkrei&#x017F;e &#x017F;o zahlreicher Völker aller Erdtheile eine<lb/>
Rolle, daß es kaum als ein übereilter Schluß er&#x017F;cheint, wenn man<lb/>
&#x017F;chon allein auf Grund die&#x017F;er nationalen Ueberlieferungen das<lb/>
Phänomen der Wildheit im Allgemeinen als ein nicht-ur&#x017F;prüngliches<lb/>
bezeichnet. Nicht ur&#x017F;prüngliche Wildheit, &#x017F;ondern Verwilderung i&#x017F;t<lb/>
das We&#x017F;en der heutigen &#x017F;. g. Naturvölker. Die&#x017F;elben &#x017F;ind wahr-<lb/>
&#x017F;cheinlich ohne Ausnahme Reprä&#x017F;entanten nicht jugendlicher Urkraft<lb/>
&#x017F;ondern grei&#x017F;enhafter Verkommenheit und zugleich räubermäßiger Ent-<lb/>
artung un&#x017F;eres Ge&#x017F;chlechts.<note place="foot" n="1)">Treffend &#x017F;agt J. P. <hi rendition="#g">Lange</hi> (Ueber die Ri&#x017F;&#x017F;e und Zerklüftungen der<lb/>
heutigen Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft, 1872, S. 25): &#x201E;Die Wilden machen &#x017F;ich untereinander zum<lb/>
bloßen Wild, und das i&#x017F;t der Untergung der Men&#x017F;chheit, nimmermehr ihr Auf-<lb/>
gang.&#x201F;</note> Auf jeden Fall i&#x017F;t es eine total un-<lb/>
berechtigte und unwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Verallgemeinerung, deren &#x017F;ich die-<lb/>
jenigen &#x017F;chuldig machen, welche bei Betrachtung die&#x017F;es oder jenes<lb/>
heutigen &#x201E;Naturvolks&#x201F; ohne Weiteres in Darwins bekannte Voraus-<lb/>
&#x017F;etzung von der Gleichartigkeit der heutigen Feuerländer mit den<lb/>
ein&#x017F;tigen Urbewohnern der briti&#x017F;chen Jn&#x017F;eln ein&#x017F;timmen. Das Problem<lb/>
i&#x017F;t ein viel zu complicirtes, als daß es mit &#x017F;o wohlfeilen, von der<lb/>
Oberfläche abge&#x017F;chöpften Analogien erledigt werden könnte; und vor-<lb/>
&#x017F;ichtigere Vertreter des naturali&#x017F;ti&#x017F;chen Standpunkts, wie z. B.<lb/>
Darwin&#x2019;s Freund und philo&#x017F;ophi&#x017F;cher Lehrmei&#x017F;ter Herbert Spencer,<lb/>
haben wohlweislich davor gewarnt, den gegenwärtigen Zu&#x017F;tand wilder<lb/>
Völker unbedacht&#x017F;amerwei&#x017F;e als Maaß&#x017F;tab für die allgemeine Ur-<lb/>
be&#x017F;chaffenheit der Men&#x017F;chheit zu gebrauchen.<note place="foot" n="2)">Vgl. Max <hi rendition="#g">Müller</hi> in den &#x201E;Hibbert Lectures&#x201F;, <hi rendition="#aq">l. c.</hi> (<hi rendition="#aq">III,</hi> 65), der<lb/>
die&#x017F;e Spencer&#x017F;che Mahnung zur Vor&#x017F;icht ganz und gar billigt und an &#x017F;einem Theile<lb/>
unter&#x017F;tützt.</note></p><lb/>
        <p>Schließlich i&#x017F;t, was &#x017F;chon früher über die that&#x017F;ächliche Unnach-<lb/>
weisbarkeit irgend eines Falles von &#x017F;elb&#x017F;tändigem Sichempor&#x017F;chwingen<lb/>
wilder Jäger&#x017F;tämme zur Stufe von Hirten- oder Ackerbau-Völkern<lb/>
ge&#x017F;agt wurde, hier nochmals in Erinnerung zu bringen. So zahl-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[213/0223] VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen. wie in ſittlicher und cultureller Hinſicht beſſere Vergangenheit ſpielen überhaupt im Sagenkreiſe ſo zahlreicher Völker aller Erdtheile eine Rolle, daß es kaum als ein übereilter Schluß erſcheint, wenn man ſchon allein auf Grund dieſer nationalen Ueberlieferungen das Phänomen der Wildheit im Allgemeinen als ein nicht-urſprüngliches bezeichnet. Nicht urſprüngliche Wildheit, ſondern Verwilderung iſt das Weſen der heutigen ſ. g. Naturvölker. Dieſelben ſind wahr- ſcheinlich ohne Ausnahme Repräſentanten nicht jugendlicher Urkraft ſondern greiſenhafter Verkommenheit und zugleich räubermäßiger Ent- artung unſeres Geſchlechts. 1) Auf jeden Fall iſt es eine total un- berechtigte und unwiſſenſchaftliche Verallgemeinerung, deren ſich die- jenigen ſchuldig machen, welche bei Betrachtung dieſes oder jenes heutigen „Naturvolks‟ ohne Weiteres in Darwins bekannte Voraus- ſetzung von der Gleichartigkeit der heutigen Feuerländer mit den einſtigen Urbewohnern der britiſchen Jnſeln einſtimmen. Das Problem iſt ein viel zu complicirtes, als daß es mit ſo wohlfeilen, von der Oberfläche abgeſchöpften Analogien erledigt werden könnte; und vor- ſichtigere Vertreter des naturaliſtiſchen Standpunkts, wie z. B. Darwin’s Freund und philoſophiſcher Lehrmeiſter Herbert Spencer, haben wohlweislich davor gewarnt, den gegenwärtigen Zuſtand wilder Völker unbedachtſamerweiſe als Maaßſtab für die allgemeine Ur- beſchaffenheit der Menſchheit zu gebrauchen. 2) Schließlich iſt, was ſchon früher über die thatſächliche Unnach- weisbarkeit irgend eines Falles von ſelbſtändigem Sichemporſchwingen wilder Jägerſtämme zur Stufe von Hirten- oder Ackerbau-Völkern geſagt wurde, hier nochmals in Erinnerung zu bringen. So zahl- 1) Treffend ſagt J. P. Lange (Ueber die Riſſe und Zerklüftungen der heutigen Geſellſchaft, 1872, S. 25): „Die Wilden machen ſich untereinander zum bloßen Wild, und das iſt der Untergung der Menſchheit, nimmermehr ihr Auf- gang.‟ 2) Vgl. Max Müller in den „Hibbert Lectures‟, l. c. (III, 65), der dieſe Spencerſche Mahnung zur Vorſicht ganz und gar billigt und an ſeinem Theile unterſtützt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/223
Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/223>, abgerufen am 24.11.2024.