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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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VI. Sprach-, religions- und culturgeschichtliche Jnstanzen.
Art nach, von den ähnlichen Empfindungen und Vorstellungen des
Thierlebens unterscheide. Wohlfeile Philosopheme epikurisch-lucrezi-
schen Ursprungs, in zeitgemäßer Reproduction durch allerhand Bei-
spiele aus der Thierpsychologie illustrirt und gestützt, spielen hier
eine Hauptrolle. Gleich dem sittlichen Gefühl (moral sense), diesem
nach Darwin mittelst natürlicher Zuchtwahl aus "socialen Trieben
und Jnstincten", wie sie auch der Thierwelt eignen, gewordnen
Entwicklungsproduct, sowie ferner gleich solchen Seelenvorgängen wie
Neugierde, Aufmerksamkeit, Gedächtniß, Phantasie, Selbstbewußtsein,
Schönheitssinn etc., soll auch der Glaube an Gott in seiner Urform
nichts als ein verfeinerter und veredelter Jnstinct sein. Schreckhafte
Träume -- und auch das Thier träumt ja, Hunde bellen im Traum etc.
-- erzeugten zuerst jenes unbestimmte Gefühl der Furcht vor bösen
Geistesmächten, das den Urgrund und Ausgangspunkt alles religiösen
Vorstellens bildet (!). Braubach habe Recht, meint Darwin, schon
beim Hunde Empfindungen religiöser Art wahrzunehmen; der Hund
blicke in der That auf seinen Herrn mit ähnlicher Verehrung wie
der Mensch auf Gott! Bis in's Bereich der Jnsecten hinein hat
Lubbock, der muthige Ameisen-Forscher, den ersten Wurzeln religiösen
Gefühls und Handelns nachzuspüren versucht, unter Zustimmung
Huxley's, Häckels und Andrer. Auch die bekannte Lubbocksche
Stufenleiter: Atheismus, Fetischismus, Totemismus, Schamanismus,
Jdololatrie, Naturpotenzen-Anbetung und ethisirte Gottesverehrung
gilt den Forschern dieser Schule principiell als richtig construirt,
mögen sie immerhin in Einzelheiten den betr. Fortschritt sich anders
denken. Und zusammen mit der absoluten Jrreligiosität wird die
vollständige Jmmoralität als Anfangszustand menschlicher Entwicklung
statuirt. Ohne Ehe, überhaupt ohne wahre Liebe des Mannes zum
Weib und umgekehrt, in wildestem Weibercommunismus, ohne eine
Spur vom zusammenhaltenden Bande der Familiengemeinschaft, sollen
die ersten Menschen gelebt haben.1) Dieser von Lubbock dictirte

1) Lubbock, Orig. of Civilis. p. 58: "The lowest races have no in-
stitution of marriage; true lowe is almost unknown among them; mar-

VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen.
Art nach, von den ähnlichen Empfindungen und Vorſtellungen des
Thierlebens unterſcheide. Wohlfeile Philoſopheme epikuriſch-lucrezi-
ſchen Urſprungs, in zeitgemäßer Reproduction durch allerhand Bei-
ſpiele aus der Thierpſychologie illuſtrirt und geſtützt, ſpielen hier
eine Hauptrolle. Gleich dem ſittlichen Gefühl (moral sense), dieſem
nach Darwin mittelſt natürlicher Zuchtwahl aus „ſocialen Trieben
und Jnſtincten‟, wie ſie auch der Thierwelt eignen, gewordnen
Entwicklungsproduct, ſowie ferner gleich ſolchen Seelenvorgängen wie
Neugierde, Aufmerkſamkeit, Gedächtniß, Phantaſie, Selbſtbewußtſein,
Schönheitsſinn ꝛc., ſoll auch der Glaube an Gott in ſeiner Urform
nichts als ein verfeinerter und veredelter Jnſtinct ſein. Schreckhafte
Träume — und auch das Thier träumt ja, Hunde bellen im Traum ꝛc.
— erzeugten zuerſt jenes unbeſtimmte Gefühl der Furcht vor böſen
Geiſtesmächten, das den Urgrund und Ausgangspunkt alles religiöſen
Vorſtellens bildet (!). Braubach habe Recht, meint Darwin, ſchon
beim Hunde Empfindungen religiöſer Art wahrzunehmen; der Hund
blicke in der That auf ſeinen Herrn mit ähnlicher Verehrung wie
der Menſch auf Gott! Bis in’s Bereich der Jnſecten hinein hat
Lubbock, der muthige Ameiſen-Forſcher, den erſten Wurzeln religiöſen
Gefühls und Handelns nachzuſpüren verſucht, unter Zuſtimmung
Huxley’s, Häckels und Andrer. Auch die bekannte Lubbockſche
Stufenleiter: Atheismus, Fetiſchismus, Totemismus, Schamanismus,
Jdololatrie, Naturpotenzen-Anbetung und ethiſirte Gottesverehrung
gilt den Forſchern dieſer Schule principiell als richtig conſtruirt,
mögen ſie immerhin in Einzelheiten den betr. Fortſchritt ſich anders
denken. Und zuſammen mit der abſoluten Jrreligioſität wird die
vollſtändige Jmmoralität als Anfangszuſtand menſchlicher Entwicklung
ſtatuirt. Ohne Ehe, überhaupt ohne wahre Liebe des Mannes zum
Weib und umgekehrt, in wildeſtem Weibercommunismus, ohne eine
Spur vom zuſammenhaltenden Bande der Familiengemeinſchaft, ſollen
die erſten Menſchen gelebt haben.1) Dieſer von Lubbock dictirte

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[189/0199] VI. Sprach-, religions- und culturgeſchichtliche Jnſtanzen. Art nach, von den ähnlichen Empfindungen und Vorſtellungen des Thierlebens unterſcheide. Wohlfeile Philoſopheme epikuriſch-lucrezi- ſchen Urſprungs, in zeitgemäßer Reproduction durch allerhand Bei- ſpiele aus der Thierpſychologie illuſtrirt und geſtützt, ſpielen hier eine Hauptrolle. Gleich dem ſittlichen Gefühl (moral sense), dieſem nach Darwin mittelſt natürlicher Zuchtwahl aus „ſocialen Trieben und Jnſtincten‟, wie ſie auch der Thierwelt eignen, gewordnen Entwicklungsproduct, ſowie ferner gleich ſolchen Seelenvorgängen wie Neugierde, Aufmerkſamkeit, Gedächtniß, Phantaſie, Selbſtbewußtſein, Schönheitsſinn ꝛc., ſoll auch der Glaube an Gott in ſeiner Urform nichts als ein verfeinerter und veredelter Jnſtinct ſein. Schreckhafte Träume — und auch das Thier träumt ja, Hunde bellen im Traum ꝛc. — erzeugten zuerſt jenes unbeſtimmte Gefühl der Furcht vor böſen Geiſtesmächten, das den Urgrund und Ausgangspunkt alles religiöſen Vorſtellens bildet (!). Braubach habe Recht, meint Darwin, ſchon beim Hunde Empfindungen religiöſer Art wahrzunehmen; der Hund blicke in der That auf ſeinen Herrn mit ähnlicher Verehrung wie der Menſch auf Gott! Bis in’s Bereich der Jnſecten hinein hat Lubbock, der muthige Ameiſen-Forſcher, den erſten Wurzeln religiöſen Gefühls und Handelns nachzuſpüren verſucht, unter Zuſtimmung Huxley’s, Häckels und Andrer. Auch die bekannte Lubbockſche Stufenleiter: Atheismus, Fetiſchismus, Totemismus, Schamanismus, Jdololatrie, Naturpotenzen-Anbetung und ethiſirte Gottesverehrung gilt den Forſchern dieſer Schule principiell als richtig conſtruirt, mögen ſie immerhin in Einzelheiten den betr. Fortſchritt ſich anders denken. Und zuſammen mit der abſoluten Jrreligioſität wird die vollſtändige Jmmoralität als Anfangszuſtand menſchlicher Entwicklung ſtatuirt. Ohne Ehe, überhaupt ohne wahre Liebe des Mannes zum Weib und umgekehrt, in wildeſtem Weibercommunismus, ohne eine Spur vom zuſammenhaltenden Bande der Familiengemeinſchaft, ſollen die erſten Menſchen gelebt haben. 1) Dieſer von Lubbock dictirte 1) Lubbock, Orig. of Civilis. p. 58: „The lowest races have no in- stitution of marriage; true lowe is almost unknown among them; mar-

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/199>, abgerufen am 22.11.2024.