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Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879.

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III. Die Traditionen des Heidenthums.
sind es ja nicht einzelne abgerissene Reminiscenzen oder verisolirte
Mythen-Bruchstücke, die wir hie und da, bei Völkern der verschie-
densten Zonen und Zungen wiederkehren sahen. Es sind ganze
Sagen-Complexe, deren Wiederkehr unter den verschiedensten Um-
ständen und bei Culturnationen fast aller Himmelsstriche wir zu
beobachten hatten. Sagen-Complexe sind es, deren einzelne Elemente
allerdings mehrfach verworfen oder seltsam ineinander gewirrt er-
scheinen, die auch durch Einmengung fremdartiger polytheistischer
Vorstellungen theilweise entstellt oder in Folge ähnlicher Einflüsse
hie und da verstümmelt auftreten, aber immerhin doch Sagen-Com-
plexe, deren Zurückgehen auf einen gemeinsamen Ursprung nach allen
Regeln gesunder und unbefangener Geschichtsforschung mit Entschie-
denheit behauptet werden muß, und zwar unter Ausschluß jener oben
berührten schlechten Entlehnungshypothese, die alle die vielen natio-
nalen Ausprägungen der Sage direct aus der Bibel selbst herleiten
will, als einer geschichtlich unmöglichen Annahme. -- Es verdient
als lehrreich hervorgehoben zu werden, daß ein principieller Gönner
der hier bestrittenen völkerpsychologischen Betrachtungsweise mit ihrem
Versuche zur Natürlicherklärung des in Rede stehenden Phänomens
am Schlusse seiner Prüfung des Sachverhalts doch zu dem Resultate
gelangt: eine gewisse geschichtlich-thatsächliche Grundsubstanz der
mancherlei Urstands-Sagen müsse denn doch wohl angenommen wer-
den. Es gelte "in der vergoldeten Schaale den wahren Kern" anzu-
erkennen, nur freilich nicht so, daß man diese als mehr bloß ideal-
wahre reinere und glücklichere Urzeit bis in die erste Kindheit unsres
Geschlechts zurückschiebe, sondern vielmehr so daß man sie als auf
einen thierartig rohen allerfrühesten Urzustand erst etwas später
gefolgt denke.1) So hätte denn die Römersage von Saturn als
dem Lehrmeister der ungeschlachten Baum- und Klotzmenschen der
ersten Aboriginerzeit das allein Richtige getroffen! Vergils Schil-
derung im achten Buche der Aeneide wäre der Wahrheit am Näch-

1) So, wie bereits oben im ersten Abschnitte von uns erwähnt, Pfleiderer
a. a. O., S. 24 f.

III. Die Traditionen des Heidenthums.
ſind es ja nicht einzelne abgeriſſene Reminiſcenzen oder veriſolirte
Mythen-Bruchſtücke, die wir hie und da, bei Völkern der verſchie-
denſten Zonen und Zungen wiederkehren ſahen. Es ſind ganze
Sagen-Complexe, deren Wiederkehr unter den verſchiedenſten Um-
ſtänden und bei Culturnationen faſt aller Himmelsſtriche wir zu
beobachten hatten. Sagen-Complexe ſind es, deren einzelne Elemente
allerdings mehrfach verworfen oder ſeltſam ineinander gewirrt er-
ſcheinen, die auch durch Einmengung fremdartiger polytheiſtiſcher
Vorſtellungen theilweiſe entſtellt oder in Folge ähnlicher Einflüſſe
hie und da verſtümmelt auftreten, aber immerhin doch Sagen-Com-
plexe, deren Zurückgehen auf einen gemeinſamen Urſprung nach allen
Regeln geſunder und unbefangener Geſchichtsforſchung mit Entſchie-
denheit behauptet werden muß, und zwar unter Ausſchluß jener oben
berührten ſchlechten Entlehnungshypotheſe, die alle die vielen natio-
nalen Ausprägungen der Sage direct aus der Bibel ſelbſt herleiten
will, als einer geſchichtlich unmöglichen Annahme. — Es verdient
als lehrreich hervorgehoben zu werden, daß ein principieller Gönner
der hier beſtrittenen völkerpſychologiſchen Betrachtungsweiſe mit ihrem
Verſuche zur Natürlicherklärung des in Rede ſtehenden Phänomens
am Schluſſe ſeiner Prüfung des Sachverhalts doch zu dem Reſultate
gelangt: eine gewiſſe geſchichtlich-thatſächliche Grundſubſtanz der
mancherlei Urſtands-Sagen müſſe denn doch wohl angenommen wer-
den. Es gelte „in der vergoldeten Schaale den wahren Kern‟ anzu-
erkennen, nur freilich nicht ſo, daß man dieſe als mehr bloß ideal-
wahre reinere und glücklichere Urzeit bis in die erſte Kindheit unſres
Geſchlechts zurückſchiebe, ſondern vielmehr ſo daß man ſie als auf
einen thierartig rohen allerfrüheſten Urzuſtand erſt etwas ſpäter
gefolgt denke.1) So hätte denn die Römerſage von Saturn als
dem Lehrmeiſter der ungeſchlachten Baum- und Klotzmenſchen der
erſten Aboriginerzeit das allein Richtige getroffen! Vergils Schil-
derung im achten Buche der Aeneide wäre der Wahrheit am Näch-

1) So, wie bereits oben im erſten Abſchnitte von uns erwähnt, Pfleiderer
a. a. O., S. 24 f.
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[108/0118] III. Die Traditionen des Heidenthums. ſind es ja nicht einzelne abgeriſſene Reminiſcenzen oder veriſolirte Mythen-Bruchſtücke, die wir hie und da, bei Völkern der verſchie- denſten Zonen und Zungen wiederkehren ſahen. Es ſind ganze Sagen-Complexe, deren Wiederkehr unter den verſchiedenſten Um- ſtänden und bei Culturnationen faſt aller Himmelsſtriche wir zu beobachten hatten. Sagen-Complexe ſind es, deren einzelne Elemente allerdings mehrfach verworfen oder ſeltſam ineinander gewirrt er- ſcheinen, die auch durch Einmengung fremdartiger polytheiſtiſcher Vorſtellungen theilweiſe entſtellt oder in Folge ähnlicher Einflüſſe hie und da verſtümmelt auftreten, aber immerhin doch Sagen-Com- plexe, deren Zurückgehen auf einen gemeinſamen Urſprung nach allen Regeln geſunder und unbefangener Geſchichtsforſchung mit Entſchie- denheit behauptet werden muß, und zwar unter Ausſchluß jener oben berührten ſchlechten Entlehnungshypotheſe, die alle die vielen natio- nalen Ausprägungen der Sage direct aus der Bibel ſelbſt herleiten will, als einer geſchichtlich unmöglichen Annahme. — Es verdient als lehrreich hervorgehoben zu werden, daß ein principieller Gönner der hier beſtrittenen völkerpſychologiſchen Betrachtungsweiſe mit ihrem Verſuche zur Natürlicherklärung des in Rede ſtehenden Phänomens am Schluſſe ſeiner Prüfung des Sachverhalts doch zu dem Reſultate gelangt: eine gewiſſe geſchichtlich-thatſächliche Grundſubſtanz der mancherlei Urſtands-Sagen müſſe denn doch wohl angenommen wer- den. Es gelte „in der vergoldeten Schaale den wahren Kern‟ anzu- erkennen, nur freilich nicht ſo, daß man dieſe als mehr bloß ideal- wahre reinere und glücklichere Urzeit bis in die erſte Kindheit unſres Geſchlechts zurückſchiebe, ſondern vielmehr ſo daß man ſie als auf einen thierartig rohen allerfrüheſten Urzuſtand erſt etwas ſpäter gefolgt denke. 1) So hätte denn die Römerſage von Saturn als dem Lehrmeiſter der ungeſchlachten Baum- und Klotzmenſchen der erſten Aboriginerzeit das allein Richtige getroffen! Vergils Schil- derung im achten Buche der Aeneide wäre der Wahrheit am Näch- 1) So, wie bereits oben im erſten Abſchnitte von uns erwähnt, Pfleiderer a. a. O., S. 24 f.

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Zitationshilfe: Zöckler, Otto: Die Lehre vom Urstand des Menschen. Gütersloh, 1879, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zoeckler_lehre_1879/118>, abgerufen am 22.11.2024.