Zetkin, Clara: Zur Frage des Frauenwahlrechts. Bearbeitet nach dem Referat auf der Konferenz sozialistischer Frauen zu Mannheim. Dazu drei Anhänge: [...]. Berlin, 1907.Umbildung seines seitherigen grundsätzlichen Verhaltens zum Frauen- Jm Zeichen des verschärften Klassenkampfes gewinnt jedoch nicht Umbildung seines seitherigen grundsätzlichen Verhaltens zum Frauen- Jm Zeichen des verschärften Klassenkampfes gewinnt jedoch nicht <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <p><pb facs="#f0052" n="42"/> Umbildung seines seitherigen grundsätzlichen Verhaltens zum Frauen-<lb/> wahlrecht arbeiten. Sie zeigen sinnenfällig, daß für die Stellungnahme<lb/> dieser Partei zur strittigen Frage im letzten Grunde nicht die vor-<lb/> geschobenen prinzipiellen ideologischen Gesichtspunkte ausschlaggebend<lb/> sind, sondern der sehr realpolitische Wille, die Herrschaft der Kirche und<lb/> der besitzenden Klassen um jeden Preis zu sichern. Die Klerikalen be-<lb/> kennen sich zu dem Grundsatz: „Die Frau schweige in der Gemeinde,‟<lb/> solange seine Praxis im Jnteresse ihrer Herrschaftsstellung als politischer<lb/> Sachwalter des kapitalistischen Eigentums gelegen ist. Jedoch werden<lb/> sie jederzeit bereit sein, der Frau die Zunge in der Gemeinde<lb/> zu lösen, wenn sie meinen, dadurch die Macht der Kirche und<lb/> der besitzenden Klassen befestigen zu können. Wie es in der<lb/> Bibel steht: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum<lb/> Besten dienen.‟ Wenn der Herr die Herzen der Mächtigen und<lb/> Gewaltigen einmal nicht sichtbarlich wie Wasserbäche im Dienste<lb/> einer kirchennützlichen Politik gelenkt hat: haben die Träger der<lb/> katholischen Kirche allzeit mittels kluger und schöner Frauen der Vor-<lb/> sehung korrigierend nachgeholfen. Und zwar ließen sie in diesem Falle<lb/> legitime wie illegitime und mit besonderer Vorliebe allerhöchst illegitime<lb/> Frauen als gleichberechtigt zu politischen Dingen zu. Sie verschmähten<lb/> es nie und nirgends, und sie streben heute mehr als je danach, dank dem<lb/> Einfluß des Beichtvaters über die Frauen die männliche Bevölkerung<lb/> politisch im Schlepptau der reaktionären Parteien zu halten. Wie sie<lb/> die Frau im Schatten des Beichtstuhls und Alkovens als schleichende<lb/> Jntrigantin oder betört kurzsichtig Flehende zu den politischen Macht-<lb/> zwecken der Kirche ausgenutzt haben, so werden sie sich auch dazu ver-<lb/> stehen, sie als Vollbürgerin im großen Lichte der Oeffentlichkeit auf den<lb/> politischen Kampfplatz zu rufen. Die oben hervorgehobene Bedingung<lb/> natürlich vorausgesetzt.</p><lb/> <p>Jm Zeichen des verschärften Klassenkampfes gewinnt jedoch nicht<lb/> nur das beschränkte Frauenwahlrecht für die reaktionären Klassen und<lb/> Parteien wachsende Reize. Unter Umständen fangen sie an, sich mit dem<lb/> Frauenwahlrecht überhaupt auszusöhnen, und dort, wo das allgemeine<lb/> Männerwahlrecht weder versagt noch gemeuchelt werden kann, auch<lb/> das allgemeine Frauenstimmrecht nicht länger als der Uebel größtes<lb/> zu betrachten. Welche Resultate es auch für die Zukunft in seinem<lb/> Schoße tragen mag: in der Gegenwart erscheint es ihnen immer noch als<lb/> eine rettende Planke. Sie lernen es als ein Mittel schätzen, die Wir-<lb/> kungen des allgemeinen Männerwahlrechts zu durchkreuzen. <hi rendition="#aq">Après<lb/> nous le déluge!</hi> Nach uns die Sintflut! Jhre Bekehrung zum<lb/> Frauenwahlrecht wird von den flachsten Augenblicks- und Nützlichkeits-<lb/> erwägungen bestimmt. Sie gründet nicht in geschichtlicher Einsicht und<lb/> der Achtung vor dem Recht des Weibes, das unter dem Drucke revo-<lb/> lutionierter Daseinsbedingungen zu politischer Reife erwächst. Nein,<lb/> ihre Wurzel ist die kühle Spekulation auf die geistige Rückständigkeit,<lb/> auf die politische Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit, welche das<lb/> traurige Erbteil ist, das Jahrhunderte der Unfreiheit und Ungleichheit<lb/> großen Massen des weiblichen Geschlechts gelassen haben. Die Gleich-<lb/> berechtigung des weiblichen Geschlechts wird von den betreffenden<lb/> Bürgerlichen als eine unerläßlich gewordene formale Anweisung mit<lb/> in den Kauf genommen, die latente politische Rückständigkeit der weib-<lb/> lichen Bevölkerung in aktive wirksame Rückständigkeit umsetzen zu<lb/> können. Die Herrschaft bürgerlicher, ja ausgesprochen reaktionärer<lb/> Jdeen über die Geister dünkt ihnen im größten Teil der Frauenwelt —<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [42/0052]
Umbildung seines seitherigen grundsätzlichen Verhaltens zum Frauen-
wahlrecht arbeiten. Sie zeigen sinnenfällig, daß für die Stellungnahme
dieser Partei zur strittigen Frage im letzten Grunde nicht die vor-
geschobenen prinzipiellen ideologischen Gesichtspunkte ausschlaggebend
sind, sondern der sehr realpolitische Wille, die Herrschaft der Kirche und
der besitzenden Klassen um jeden Preis zu sichern. Die Klerikalen be-
kennen sich zu dem Grundsatz: „Die Frau schweige in der Gemeinde,‟
solange seine Praxis im Jnteresse ihrer Herrschaftsstellung als politischer
Sachwalter des kapitalistischen Eigentums gelegen ist. Jedoch werden
sie jederzeit bereit sein, der Frau die Zunge in der Gemeinde
zu lösen, wenn sie meinen, dadurch die Macht der Kirche und
der besitzenden Klassen befestigen zu können. Wie es in der
Bibel steht: „Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum
Besten dienen.‟ Wenn der Herr die Herzen der Mächtigen und
Gewaltigen einmal nicht sichtbarlich wie Wasserbäche im Dienste
einer kirchennützlichen Politik gelenkt hat: haben die Träger der
katholischen Kirche allzeit mittels kluger und schöner Frauen der Vor-
sehung korrigierend nachgeholfen. Und zwar ließen sie in diesem Falle
legitime wie illegitime und mit besonderer Vorliebe allerhöchst illegitime
Frauen als gleichberechtigt zu politischen Dingen zu. Sie verschmähten
es nie und nirgends, und sie streben heute mehr als je danach, dank dem
Einfluß des Beichtvaters über die Frauen die männliche Bevölkerung
politisch im Schlepptau der reaktionären Parteien zu halten. Wie sie
die Frau im Schatten des Beichtstuhls und Alkovens als schleichende
Jntrigantin oder betört kurzsichtig Flehende zu den politischen Macht-
zwecken der Kirche ausgenutzt haben, so werden sie sich auch dazu ver-
stehen, sie als Vollbürgerin im großen Lichte der Oeffentlichkeit auf den
politischen Kampfplatz zu rufen. Die oben hervorgehobene Bedingung
natürlich vorausgesetzt.
Jm Zeichen des verschärften Klassenkampfes gewinnt jedoch nicht
nur das beschränkte Frauenwahlrecht für die reaktionären Klassen und
Parteien wachsende Reize. Unter Umständen fangen sie an, sich mit dem
Frauenwahlrecht überhaupt auszusöhnen, und dort, wo das allgemeine
Männerwahlrecht weder versagt noch gemeuchelt werden kann, auch
das allgemeine Frauenstimmrecht nicht länger als der Uebel größtes
zu betrachten. Welche Resultate es auch für die Zukunft in seinem
Schoße tragen mag: in der Gegenwart erscheint es ihnen immer noch als
eine rettende Planke. Sie lernen es als ein Mittel schätzen, die Wir-
kungen des allgemeinen Männerwahlrechts zu durchkreuzen. Après
nous le déluge! Nach uns die Sintflut! Jhre Bekehrung zum
Frauenwahlrecht wird von den flachsten Augenblicks- und Nützlichkeits-
erwägungen bestimmt. Sie gründet nicht in geschichtlicher Einsicht und
der Achtung vor dem Recht des Weibes, das unter dem Drucke revo-
lutionierter Daseinsbedingungen zu politischer Reife erwächst. Nein,
ihre Wurzel ist die kühle Spekulation auf die geistige Rückständigkeit,
auf die politische Gleichgültigkeit und Verständnislosigkeit, welche das
traurige Erbteil ist, das Jahrhunderte der Unfreiheit und Ungleichheit
großen Massen des weiblichen Geschlechts gelassen haben. Die Gleich-
berechtigung des weiblichen Geschlechts wird von den betreffenden
Bürgerlichen als eine unerläßlich gewordene formale Anweisung mit
in den Kauf genommen, die latente politische Rückständigkeit der weib-
lichen Bevölkerung in aktive wirksame Rückständigkeit umsetzen zu
können. Die Herrschaft bürgerlicher, ja ausgesprochen reaktionärer
Jdeen über die Geister dünkt ihnen im größten Teil der Frauenwelt —
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(2015-08-28T12:13:05Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
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