Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Zesen, Philipp von: Assenat. Amsterdam, 1670.

Bild:
<< vorherige Seite

sechstes Buch.
gnade mächtig sein/ so behalte mein Herr mich/ an mei-
nes Bruders stat/ zum leibeignen; und laße den Jüng-
ling/ mit seinen Brüdern/ hinauf ziehen. Dan/ ohne
ihn/ darf ich nach hause nicht kommen. Ich würde den
jammer meines Vaters/ dessen seele an seines Sohnes
seele hänget/ sehen müssen. Ich würde sehen müssen/
daß er vor großem hertzleide stürbe. Ja ich würde hören
müssen/ daß ich seine grauen haare mit jammer hinun-
ter in die grube gebracht.

Dieses alles hatte Josef bisher getahn/ seine Brü-
der zu versuchen. Er wolte erfahren/ ob sie mit dem
Benjamin auch so tükkisch handeln würden/ als mit
ihm. Er wolte wissen/ ob sie seinem Bruder eben so we-
nig liebe zutrügen/ als ihm: und ob sie denselben eben
so boßhaftig verlaßen wolten/ als ihn. Weil er nun
mehr liebe bei ihnen befand/ als er ihm eingebildet; so
brach ihm endlich das hertz. Es ward mürbe: es schmoltz
ihm im leibe. Er konte sich länger nicht halten. Er
rief; daß iederman von mir hinausgehe! Als nun kein
mensch mehr vor ihm stund/ als seine Brüder; da gab
er sich ihnen zu erkennen. Da fing er so laut an zu wei-
nen/ daß es die Egipter/ und das gesinde des Köni-
ges höreten. Da sprach er zu seinen Brüdern: Ich bin
Josef. Lebet mein Vater noch? Und seine Brüder
konten ihm nicht antworten: so erschraken sie vor sei-
nem angesichte. Josef aber fuhr fort: trähtet doch her
zu mir/ sagte er. Und sie trahten herzu. Da sprach er:
ich bin Josef/ euer Bruder/ den ihr den Ismaelern
verkauftet. Nun bekümmert euch deswegen nicht: ja
denket nicht/ daß ich darüm zürne/ weil ihr mich hierher
verkauft habt. Dan üm eures lebens willen hat mich
Gott für euch hergesandt. Zwei jahr haben wir schon
teure zeit gehabt. Nun seind noch fünf jahre vorhan-
den/ daß man weder pflügen/ noch ärnten wird. Aber
Gott hat mich für euch hergesandt/ daß er euch übrig be-

hal-
S iiij

ſechſtes Buch.
gnade maͤchtig ſein/ ſo behalte mein Herꝛ mich/ an mei-
nes Bruders ſtat/ zum leibeignen; und laße den Juͤng-
ling/ mit ſeinen Bruͤdern/ hinauf ziehen. Dan/ ohne
ihn/ darf ich nach hauſe nicht kommen. Ich wuͤrde den
jammer meines Vaters/ deſſen ſeele an ſeines Sohnes
ſeele haͤnget/ ſehen muͤſſen. Ich wuͤrde ſehen muͤſſen/
daß er vor großem hertzleide ſtuͤrbe. Ja ich wuͤrde hoͤren
muͤſſen/ daß ich ſeine grauen haare mit jammer hinun-
ter in die grube gebracht.

Dieſes alles hatte Joſef bisher getahn/ ſeine Bruͤ-
der zu verſuchen. Er wolte erfahren/ ob ſie mit dem
Benjamin auch ſo tuͤkkiſch handeln wuͤrden/ als mit
ihm. Er wolte wiſſen/ ob ſie ſeinem Bruder eben ſo we-
nig liebe zutruͤgen/ als ihm: und ob ſie denſelben eben
ſo boßhaftig verlaßen wolten/ als ihn. Weil er nun
mehr liebe bei ihnen befand/ als er ihm eingebildet; ſo
brach ihm endlich das hertz. Es ward muͤrbe: es ſchmoltz
ihm im leibe. Er konte ſich laͤnger nicht halten. Er
rief; daß iederman von mir hinausgehe! Als nun kein
menſch mehr vor ihm ſtund/ als ſeine Bruͤder; da gab
er ſich ihnen zu erkennen. Da fing er ſo laut an zu wei-
nen/ daß es die Egipter/ und das geſinde des Koͤni-
ges hoͤreten. Da ſprach er zu ſeinen Bruͤdern: Ich bin
Joſef. Lebet mein Vater noch? Und ſeine Bruͤder
konten ihm nicht antworten: ſo erſchraken ſie vor ſei-
nem angeſichte. Joſef aber fuhr fort: traͤhtet doch her
zu mir/ ſagte er. Und ſie trahten herzu. Da ſprach er:
ich bin Joſef/ euer Bruder/ den ihr den Ismaelern
verkauftet. Nun bekuͤmmert euch deswegen nicht: ja
denket nicht/ daß ich daruͤm zuͤrne/ weil ihr mich hierher
verkauft habt. Dan uͤm eures lebens willen hat mich
Gott fuͤr euch hergeſandt. Zwei jahr haben wir ſchon
teure zeit gehabt. Nun ſeind noch fuͤnf jahre vorhan-
den/ daß man weder pfluͤgen/ noch aͤrnten wird. Aber
Gott hat mich fuͤr euch hergeſandt/ daß er euch uͤbrig be-

hal-
S iiij
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0303" n="279"/><fw place="top" type="header">&#x017F;ech&#x017F;tes Buch.</fw><lb/>
gnade ma&#x0364;chtig &#x017F;ein/ &#x017F;o behalte mein Her&#xA75B; mich/ an mei-<lb/>
nes Bruders &#x017F;tat/ zum leibeignen; und laße den Ju&#x0364;ng-<lb/>
ling/ mit &#x017F;einen Bru&#x0364;dern/ hinauf ziehen. Dan/ ohne<lb/>
ihn/ darf ich nach hau&#x017F;e nicht kommen. Ich wu&#x0364;rde den<lb/>
jammer meines Vaters/ de&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eele an &#x017F;eines Sohnes<lb/>
&#x017F;eele ha&#x0364;nget/ &#x017F;ehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Ich wu&#x0364;rde &#x017F;ehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en/<lb/>
daß er vor großem hertzleide &#x017F;tu&#x0364;rbe. Ja ich wu&#x0364;rde ho&#x0364;ren<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en/ daß ich &#x017F;eine grauen haare mit jammer hinun-<lb/>
ter in die grube gebracht.</p><lb/>
        <p>Die&#x017F;es alles hatte <hi rendition="#fr">Jo&#x017F;ef</hi> bisher getahn/ &#x017F;eine Bru&#x0364;-<lb/>
der zu ver&#x017F;uchen. Er wolte erfahren/ ob &#x017F;ie mit dem<lb/><hi rendition="#fr">Benjamin</hi> auch &#x017F;o tu&#x0364;kki&#x017F;ch handeln wu&#x0364;rden/ als mit<lb/>
ihm. Er wolte wi&#x017F;&#x017F;en/ ob &#x017F;ie &#x017F;einem Bruder eben &#x017F;o we-<lb/>
nig liebe zutru&#x0364;gen/ als ihm: und ob &#x017F;ie den&#x017F;elben eben<lb/>
&#x017F;o boßhaftig verlaßen wolten/ als ihn. Weil er nun<lb/>
mehr liebe bei ihnen befand/ als er ihm eingebildet; &#x017F;o<lb/>
brach ihm endlich das hertz. Es ward mu&#x0364;rbe: es &#x017F;chmoltz<lb/>
ihm im leibe. Er konte &#x017F;ich la&#x0364;nger nicht halten. Er<lb/>
rief; daß iederman von mir hinausgehe! Als nun kein<lb/>
men&#x017F;ch mehr vor ihm &#x017F;tund/ als &#x017F;eine Bru&#x0364;der; da gab<lb/>
er &#x017F;ich ihnen zu erkennen. Da fing er &#x017F;o laut an zu wei-<lb/>
nen/ daß es die <hi rendition="#fr">Egipter/</hi> und das ge&#x017F;inde des Ko&#x0364;ni-<lb/>
ges ho&#x0364;reten. Da &#x017F;prach er zu &#x017F;einen Bru&#x0364;dern: Ich bin<lb/><hi rendition="#fr">Jo&#x017F;ef.</hi> Lebet mein Vater noch? Und &#x017F;eine Bru&#x0364;der<lb/>
konten ihm nicht antworten: &#x017F;o er&#x017F;chraken &#x017F;ie vor &#x017F;ei-<lb/>
nem ange&#x017F;ichte. <hi rendition="#fr">Jo&#x017F;ef</hi> aber fuhr fort: tra&#x0364;htet doch her<lb/>
zu mir/ &#x017F;agte er. Und &#x017F;ie trahten herzu. Da &#x017F;prach er:<lb/>
ich bin <hi rendition="#fr">Jo&#x017F;ef/</hi> euer Bruder/ den ihr den Ismaelern<lb/>
verkauftet. Nun beku&#x0364;mmert euch deswegen nicht: ja<lb/>
denket nicht/ daß ich daru&#x0364;m zu&#x0364;rne/ weil ihr mich hierher<lb/>
verkauft habt. Dan u&#x0364;m eures lebens willen hat mich<lb/>
Gott fu&#x0364;r euch herge&#x017F;andt. Zwei jahr haben wir &#x017F;chon<lb/>
teure zeit gehabt. Nun &#x017F;eind noch fu&#x0364;nf jahre vorhan-<lb/>
den/ daß man weder pflu&#x0364;gen/ noch a&#x0364;rnten wird. Aber<lb/>
Gott hat mich fu&#x0364;r euch herge&#x017F;andt/ daß er euch u&#x0364;brig be-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">S iiij</fw><fw place="bottom" type="catch">hal-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[279/0303] ſechſtes Buch. gnade maͤchtig ſein/ ſo behalte mein Herꝛ mich/ an mei- nes Bruders ſtat/ zum leibeignen; und laße den Juͤng- ling/ mit ſeinen Bruͤdern/ hinauf ziehen. Dan/ ohne ihn/ darf ich nach hauſe nicht kommen. Ich wuͤrde den jammer meines Vaters/ deſſen ſeele an ſeines Sohnes ſeele haͤnget/ ſehen muͤſſen. Ich wuͤrde ſehen muͤſſen/ daß er vor großem hertzleide ſtuͤrbe. Ja ich wuͤrde hoͤren muͤſſen/ daß ich ſeine grauen haare mit jammer hinun- ter in die grube gebracht. Dieſes alles hatte Joſef bisher getahn/ ſeine Bruͤ- der zu verſuchen. Er wolte erfahren/ ob ſie mit dem Benjamin auch ſo tuͤkkiſch handeln wuͤrden/ als mit ihm. Er wolte wiſſen/ ob ſie ſeinem Bruder eben ſo we- nig liebe zutruͤgen/ als ihm: und ob ſie denſelben eben ſo boßhaftig verlaßen wolten/ als ihn. Weil er nun mehr liebe bei ihnen befand/ als er ihm eingebildet; ſo brach ihm endlich das hertz. Es ward muͤrbe: es ſchmoltz ihm im leibe. Er konte ſich laͤnger nicht halten. Er rief; daß iederman von mir hinausgehe! Als nun kein menſch mehr vor ihm ſtund/ als ſeine Bruͤder; da gab er ſich ihnen zu erkennen. Da fing er ſo laut an zu wei- nen/ daß es die Egipter/ und das geſinde des Koͤni- ges hoͤreten. Da ſprach er zu ſeinen Bruͤdern: Ich bin Joſef. Lebet mein Vater noch? Und ſeine Bruͤder konten ihm nicht antworten: ſo erſchraken ſie vor ſei- nem angeſichte. Joſef aber fuhr fort: traͤhtet doch her zu mir/ ſagte er. Und ſie trahten herzu. Da ſprach er: ich bin Joſef/ euer Bruder/ den ihr den Ismaelern verkauftet. Nun bekuͤmmert euch deswegen nicht: ja denket nicht/ daß ich daruͤm zuͤrne/ weil ihr mich hierher verkauft habt. Dan uͤm eures lebens willen hat mich Gott fuͤr euch hergeſandt. Zwei jahr haben wir ſchon teure zeit gehabt. Nun ſeind noch fuͤnf jahre vorhan- den/ daß man weder pfluͤgen/ noch aͤrnten wird. Aber Gott hat mich fuͤr euch hergeſandt/ daß er euch uͤbrig be- hal- S iiij

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/zesen_assenat_1670
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/zesen_assenat_1670/303
Zitationshilfe: Zesen, Philipp von: Assenat. Amsterdam, 1670, S. 279. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/zesen_assenat_1670/303>, abgerufen am 22.12.2024.