Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.
a a' einen beliebig kleineren Bogen setzen, wenn wir nur den Bogen c c' verhältnissmässig ebenso verkleinern, und stellen wir uns vor, diese Bogen, statt wie in der Figur eine endliche Grösse zu haben, seien unendlich klein, so würden sie immer noch im selben Verhält- nisse stehen, und der Satz, dass a b. a a' = c d. c c' sein müsse, bliebe richtig. Nun erfolgt in Wirklichkeit, wenn Gleichgewicht vorhanden ist, nicht einmal eine unendlich kleine Drehung, sondern es ist nur das Streben vorhanden, solche Drehungen zu erzeugen, die sich wie a a' zu c c' verhalten; man nennt daher die relativen Geschwindigkei- ten a a' und c c' auch bloss virtuelle Geschwindigkeiten. Den Satz, dass, wenn Gleichgewicht vorhanden sein soll, die Summe aus den Producten der Kräfte in ihre virtuellen Geschwindigkeiten null sein muss, bezeichnet man hiernach als das Princip der virtuellen Geschwindigkeiten.
Dieses Princip lässt sich auch auf die fortschreitende Bewegung anwenden. Lassen wir a e (Fig. 5) wieder eine Kraft bedeuten, so kann diese nach dem Kräfteparallelogramm in die auf einander senk- rechten Seitenkräfte a f und a b zerlegt werden. Da nun, wenn kein Widerstand vorhanden wäre, die eine Seitenkraft den Angriffspunct a nach f und die andere denselben nach b führen würde in derselben Zeit, in welcher die in der That einwirkende Kraft ihn nach e brächte, so hat man bei dieser Zerlegung offenbar nicht eigentlich, wie man angibt, die Kraft a e sondern vielmehr die Geschwindigkeit a e in ihre Seitengeschwindigkeiten zerlegt. Da nun aber die Kraft a e selbst zu- nächst nur ein Streben zur Bewegung ist, indem es noch vom Vorhan- densein anderer Kräfte abhängt, ob wirkliche Bewegung eintritt, so sind auch die Seitengeschwindigkeiten a f und a b nur virtuelle Geschwindigkeiten. Ebenso wie a e kann man jede andere am selben System wirkende Kraft, z. B. c g, nach den nämlichen Richtungen in zwei virtuelle Geschwindigkeiten, c h und c d, zerlegen, und führt man dies successiv mit allen auf das System wirkenden Kräften aus, so bekommt man als schliessliche Bedingung des Gleichgewichtes in Be- zug auf fortschreitende Bewegung, dass die Summe der a c parallelen virtuellen Geschwindigkeiten und die Summe der auf a c senkrechten virtuellen Geschwindigkeiten beide gleich null sein müssen, wobei selbst- verständlich wieder die entgegengesetzt gerichteten Geschwindigkeiten mit entgegengesetzten Vorzeichen zu versehen sind.
Das Princip der virtuellen Geschwindigkeiten hat hiernach vor dem Satz des Kräfteparallelogramms und des Hebels den Vorzug grös- serer Allgemeinheit, indem es gleichzeitig die Gleichgewichtsbedingun- gen in Bezug auf fortschreitende und in Bezug auf drehende Bewegung enthält. Ausserdem besitzt es den Vorzug grösserer wissenschaftlicher Schärfe, weil es sogleich den Begriff der Geschwindigkeit einführt, der auch in der Statik von Bedeutung ist. Denn ein Gleichgewicht zwischen
Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.
a a' einen beliebig kleineren Bogen setzen, wenn wir nur den Bogen c c' verhältnissmässig ebenso verkleinern, und stellen wir uns vor, diese Bogen, statt wie in der Figur eine endliche Grösse zu haben, seien unendlich klein, so würden sie immer noch im selben Verhält- nisse stehen, und der Satz, dass a b. a a' = c d. c c' sein müsse, bliebe richtig. Nun erfolgt in Wirklichkeit, wenn Gleichgewicht vorhanden ist, nicht einmal eine unendlich kleine Drehung, sondern es ist nur das Streben vorhanden, solche Drehungen zu erzeugen, die sich wie a a' zu c c' verhalten; man nennt daher die relativen Geschwindigkei- ten a a' und c c' auch bloss virtuelle Geschwindigkeiten. Den Satz, dass, wenn Gleichgewicht vorhanden sein soll, die Summe aus den Producten der Kräfte in ihre virtuellen Geschwindigkeiten null sein muss, bezeichnet man hiernach als das Princip der virtuellen Geschwindigkeiten.
Dieses Princip lässt sich auch auf die fortschreitende Bewegung anwenden. Lassen wir a e (Fig. 5) wieder eine Kraft bedeuten, so kann diese nach dem Kräfteparallelogramm in die auf einander senk- rechten Seitenkräfte a f und a b zerlegt werden. Da nun, wenn kein Widerstand vorhanden wäre, die eine Seitenkraft den Angriffspunct a nach f und die andere denselben nach b führen würde in derselben Zeit, in welcher die in der That einwirkende Kraft ihn nach e brächte, so hat man bei dieser Zerlegung offenbar nicht eigentlich, wie man angibt, die Kraft a e sondern vielmehr die Geschwindigkeit a e in ihre Seitengeschwindigkeiten zerlegt. Da nun aber die Kraft a e selbst zu- nächst nur ein Streben zur Bewegung ist, indem es noch vom Vorhan- densein anderer Kräfte abhängt, ob wirkliche Bewegung eintritt, so sind auch die Seitengeschwindigkeiten a f und a b nur virtuelle Geschwindigkeiten. Ebenso wie a e kann man jede andere am selben System wirkende Kraft, z. B. c g, nach den nämlichen Richtungen in zwei virtuelle Geschwindigkeiten, c h und c d, zerlegen, und führt man dies successiv mit allen auf das System wirkenden Kräften aus, so bekommt man als schliessliche Bedingung des Gleichgewichtes in Be- zug auf fortschreitende Bewegung, dass die Summe der a c parallelen virtuellen Geschwindigkeiten und die Summe der auf a c senkrechten virtuellen Geschwindigkeiten beide gleich null sein müssen, wobei selbst- verständlich wieder die entgegengesetzt gerichteten Geschwindigkeiten mit entgegengesetzten Vorzeichen zu versehen sind.
Das Princip der virtuellen Geschwindigkeiten hat hiernach vor dem Satz des Kräfteparallelogramms und des Hebels den Vorzug grös- serer Allgemeinheit, indem es gleichzeitig die Gleichgewichtsbedingun- gen in Bezug auf fortschreitende und in Bezug auf drehende Bewegung enthält. Ausserdem besitzt es den Vorzug grösserer wissenschaftlicher Schärfe, weil es sogleich den Begriff der Geschwindigkeit einführt, der auch in der Statik von Bedeutung ist. Denn ein Gleichgewicht zwischen
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Von den Naturerscheinungen und Naturgesetzen im Allgemeinen.
a a' einen beliebig kleineren Bogen setzen, wenn wir nur den Bogen
c c' verhältnissmässig ebenso verkleinern, und stellen wir uns vor,
diese Bogen, statt wie in der Figur eine endliche Grösse zu haben,
seien unendlich klein, so würden sie immer noch im selben Verhält-
nisse stehen, und der Satz, dass a b. a a' = c d. c c' sein müsse, bliebe
richtig. Nun erfolgt in Wirklichkeit, wenn Gleichgewicht vorhanden
ist, nicht einmal eine unendlich kleine Drehung, sondern es ist nur
das Streben vorhanden, solche Drehungen zu erzeugen, die sich wie
a a' zu c c' verhalten; man nennt daher die relativen Geschwindigkei-
ten a a' und c c' auch bloss virtuelle Geschwindigkeiten. Den Satz,
dass, wenn Gleichgewicht vorhanden sein soll, die Summe aus den
Producten der Kräfte in ihre virtuellen Geschwindigkeiten null sein
muss, bezeichnet man hiernach als das Princip der virtuellen
Geschwindigkeiten.
Dieses Princip lässt sich auch auf die fortschreitende Bewegung
anwenden. Lassen wir a e (Fig. 5) wieder eine Kraft bedeuten, so
kann diese nach dem Kräfteparallelogramm in die auf einander senk-
rechten Seitenkräfte a f und a b zerlegt werden. Da nun, wenn kein
Widerstand vorhanden wäre, die eine Seitenkraft den Angriffspunct a
nach f und die andere denselben nach b führen würde in derselben
Zeit, in welcher die in der That einwirkende Kraft ihn nach e brächte,
so hat man bei dieser Zerlegung offenbar nicht eigentlich, wie man
angibt, die Kraft a e sondern vielmehr die Geschwindigkeit a e in ihre
Seitengeschwindigkeiten zerlegt. Da nun aber die Kraft a e selbst zu-
nächst nur ein Streben zur Bewegung ist, indem es noch vom Vorhan-
densein anderer Kräfte abhängt, ob wirkliche Bewegung eintritt, so
sind auch die Seitengeschwindigkeiten a f und a b nur virtuelle
Geschwindigkeiten. Ebenso wie a e kann man jede andere am selben
System wirkende Kraft, z. B. c g, nach den nämlichen Richtungen in
zwei virtuelle Geschwindigkeiten, c h und c d, zerlegen, und führt man
dies successiv mit allen auf das System wirkenden Kräften aus, so
bekommt man als schliessliche Bedingung des Gleichgewichtes in Be-
zug auf fortschreitende Bewegung, dass die Summe der a c parallelen
virtuellen Geschwindigkeiten und die Summe der auf a c senkrechten
virtuellen Geschwindigkeiten beide gleich null sein müssen, wobei selbst-
verständlich wieder die entgegengesetzt gerichteten Geschwindigkeiten
mit entgegengesetzten Vorzeichen zu versehen sind.
Das Princip der virtuellen Geschwindigkeiten hat hiernach vor
dem Satz des Kräfteparallelogramms und des Hebels den Vorzug grös-
serer Allgemeinheit, indem es gleichzeitig die Gleichgewichtsbedingun-
gen in Bezug auf fortschreitende und in Bezug auf drehende Bewegung
enthält. Ausserdem besitzt es den Vorzug grösserer wissenschaftlicher
Schärfe, weil es sogleich den Begriff der Geschwindigkeit einführt, der
auch in der Statik von Bedeutung ist. Denn ein Gleichgewicht zwischen
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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/48>, abgerufen am 23.07.2024.
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