Die unendliche Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen kann1 Naturgeschichte und Naturlehre. von dem denkenden Beobachter unter zwei verschiedenen Gesichts- punkten aufgefasst werden, die auch der wissenschaftlichen Forschung zwei völlig von einander abweichende Wege eröffnen. Betrachten wir die Dinge in ihrem augenblicklichen Bestehen, ohne Rücksicht auf ihre Veränderungen in der Zeit und im Raume, so erscheint uns die Natur als eine Menge einzelner, in Ruhe verharrender Gegenstände, an de- nen wir theils übereinstimmende, theils unterscheidende Merkmale beobachten, und die wir darnach in grössere und kleinere Gruppen ordnen. Diese Ordnung wissenschaftlich zu begründen und hierdurch eine systematische Auffassung der gesammten Natur zu gewinnen, ist die Aufgabe der Naturgeschichte, die sich in ebenso viele einzelne Zweige sondert, als wir Hauptclassen unter den Naturgegenständen unterscheiden können. Fassen wir dagegen die Dinge nicht in ihrem ruhenden Bestehen in's Auge, sondern achten wir auf die manchfachen Veränderungen, die wir an denselben wahrnehmen, und suchen wir uns Rechenschaft zu geben über die Beschaffenheit und die Ursachen die- ser Veränderungen, so betreten wir das Forschungsgebiet der Natur- lehre, die man aus practischen Gründen in drei grosse Zweige, Physik, Chemie und Physiologie, getrennt hat.
Schon mit den frühesten Eindrücken, die wir von aussen empfan-2 Die Naturge- setze. gen, verknüpft sich die Beobachtung eines gleichförmigen Ge- schehens in der Natur. So fällt ein Körper immer in derselben Weise zur Erde, die Schwingungen eines Pendels wiederholen sich nach der nämlichen Regel, die Planeten kreisen in gleichförmig sich wiederholenden Perioden um die Sonne. Wir bezeichnen dieses gleich- förmige Geschehen als die Gesetzmässigkeit der Naturerscheinun- gen. Jede einzelne Gleichförmigkeit in der Natur nennen wir daher
Wundt, medicin. Physik. 1
Einleitung.
Die unendliche Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen kann1 Naturgeschichte und Naturlehre. von dem denkenden Beobachter unter zwei verschiedenen Gesichts- punkten aufgefasst werden, die auch der wissenschaftlichen Forschung zwei völlig von einander abweichende Wege eröffnen. Betrachten wir die Dinge in ihrem augenblicklichen Bestehen, ohne Rücksicht auf ihre Veränderungen in der Zeit und im Raume, so erscheint uns die Natur als eine Menge einzelner, in Ruhe verharrender Gegenstände, an de- nen wir theils übereinstimmende, theils unterscheidende Merkmale beobachten, und die wir darnach in grössere und kleinere Gruppen ordnen. Diese Ordnung wissenschaftlich zu begründen und hierdurch eine systematische Auffassung der gesammten Natur zu gewinnen, ist die Aufgabe der Naturgeschichte, die sich in ebenso viele einzelne Zweige sondert, als wir Hauptclassen unter den Naturgegenständen unterscheiden können. Fassen wir dagegen die Dinge nicht in ihrem ruhenden Bestehen in’s Auge, sondern achten wir auf die manchfachen Veränderungen, die wir an denselben wahrnehmen, und suchen wir uns Rechenschaft zu geben über die Beschaffenheit und die Ursachen die- ser Veränderungen, so betreten wir das Forschungsgebiet der Natur- lehre, die man aus practischen Gründen in drei grosse Zweige, Physik, Chemie und Physiologie, getrennt hat.
Schon mit den frühesten Eindrücken, die wir von aussen empfan-2 Die Naturge- setze. gen, verknüpft sich die Beobachtung eines gleichförmigen Ge- schehens in der Natur. So fällt ein Körper immer in derselben Weise zur Erde, die Schwingungen eines Pendels wiederholen sich nach der nämlichen Regel, die Planeten kreisen in gleichförmig sich wiederholenden Perioden um die Sonne. Wir bezeichnen dieses gleich- förmige Geschehen als die Gesetzmässigkeit der Naturerscheinun- gen. Jede einzelne Gleichförmigkeit in der Natur nennen wir daher
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Einleitung.
Die unendliche Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen kann
von dem denkenden Beobachter unter zwei verschiedenen Gesichts-
punkten aufgefasst werden, die auch der wissenschaftlichen Forschung
zwei völlig von einander abweichende Wege eröffnen. Betrachten wir
die Dinge in ihrem augenblicklichen Bestehen, ohne Rücksicht auf ihre
Veränderungen in der Zeit und im Raume, so erscheint uns die Natur
als eine Menge einzelner, in Ruhe verharrender Gegenstände, an de-
nen wir theils übereinstimmende, theils unterscheidende Merkmale
beobachten, und die wir darnach in grössere und kleinere Gruppen
ordnen. Diese Ordnung wissenschaftlich zu begründen und hierdurch
eine systematische Auffassung der gesammten Natur zu gewinnen, ist
die Aufgabe der Naturgeschichte, die sich in ebenso viele einzelne
Zweige sondert, als wir Hauptclassen unter den Naturgegenständen
unterscheiden können. Fassen wir dagegen die Dinge nicht in ihrem
ruhenden Bestehen in’s Auge, sondern achten wir auf die manchfachen
Veränderungen, die wir an denselben wahrnehmen, und suchen wir uns
Rechenschaft zu geben über die Beschaffenheit und die Ursachen die-
ser Veränderungen, so betreten wir das Forschungsgebiet der Natur-
lehre, die man aus practischen Gründen in drei grosse Zweige,
Physik, Chemie und Physiologie, getrennt hat.
1
Naturgeschichte
und Naturlehre.
Schon mit den frühesten Eindrücken, die wir von aussen empfan-
gen, verknüpft sich die Beobachtung eines gleichförmigen Ge-
schehens in der Natur. So fällt ein Körper immer in derselben
Weise zur Erde, die Schwingungen eines Pendels wiederholen sich
nach der nämlichen Regel, die Planeten kreisen in gleichförmig sich
wiederholenden Perioden um die Sonne. Wir bezeichnen dieses gleich-
förmige Geschehen als die Gesetzmässigkeit der Naturerscheinun-
gen. Jede einzelne Gleichförmigkeit in der Natur nennen wir daher
2
Die Naturge-
setze.
Wundt, medicin. Physik. 1
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Wundt, Wilhelm: Handbuch der medicinischen Physik. Erlangen, 1867, S. [1]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_medizinische_1867/23>, abgerufen am 19.11.2024.
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