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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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I. Die psychischen Elemente.

21. Die geschilderten Eigenschaften des Systems der
Lichtempfindungen sind so eigenartig, dass sie von vorn-
herein ein wesentlich anderes Verhältniss zwischen diesen
psychologischen Eigenschaften und den objectiven Vorgängen
der Lichtreizung erwarten lassen, als es bei den bisher be-
trachteten Empfindungssystemen, namentlich des allgemeinen
Sinnes und des Gehörssinnes, besteht. Am auffallendsten ist
in dieser Hinsicht der Unterschied von dem System der
Tonempfindungen. Bei diesem gilt das Princip des Parallelis-
mus zwischen Empfindung und Reiz (S. 54) nicht bloß für den
physiologischen, sondern in weitem Umfang auch für den
physikalischen Reizungsvorgang, indem der einfachen Form
der Schallschwingungen eine einfache Empfindung, der zu-
sammengesetzten Form dieser Schwingungen aber eine Mehr-
heit einfacher Empfindungen entspricht, und indem sich zu-
gleich mit der Stärke der Schwingungen die Intensität der
Empfindung, mit der Geschwindigkeit jener die Qualität dieser
stetig verändert, so dass in beiden Richtungen mit wachsen-
dem Unterschied der objectiven physikalischen Reize der
subjective Unterschied der Empfindungen zunimmt. Dieses
Verhältniss ist ein völlig anderes bei den Lichtempfindungen.
Wie der objective Schall, so besteht auch das objective Licht
in Schwingungsbewegungen irgend eines Mediums, deren
nähere Form in diesem Fall freilich noch zweifelhaft ist,
von denen wir aber aus den physikalischen Interferenzver-
suchen wissen, dass sie aus sehr kleinen und sehr schnellen
Wellen bestehen, so zwar, dass diejenigen Schwingungen,

nahme veranlasst, die Empfindung Blau habe sich später entwickelt
als andere Farbenempfindungen, weil z. B. noch bei Homer die Be-
zeichnung für Blau mit der für "Dunkel" zusammenfällt. Zum Ueber-
fluss hat in diesem Fall die Prüfung der Farbenempfindlichkeit bei
Naturvölkern, | deren sprachliche Unterscheidung der Farben oft noch
viel mangelhafter ist, als die der Griechen zur Zeit Homers war, die
gänzliche Grundlosigkeit dieser Annahme erwiesen.
I. Die psychischen Elemente.

21. Die geschilderten Eigenschaften des Systems der
Lichtempfindungen sind so eigenartig, dass sie von vorn-
herein ein wesentlich anderes Verhältniss zwischen diesen
psychologischen Eigenschaften und den objectiven Vorgängen
der Lichtreizung erwarten lassen, als es bei den bisher be-
trachteten Empfindungssystemen, namentlich des allgemeinen
Sinnes und des Gehörssinnes, besteht. Am auffallendsten ist
in dieser Hinsicht der Unterschied von dem System der
Tonempfindungen. Bei diesem gilt das Princip des Parallelis-
mus zwischen Empfindung und Reiz (S. 54) nicht bloß für den
physiologischen, sondern in weitem Umfang auch für den
physikalischen Reizungsvorgang, indem der einfachen Form
der Schallschwingungen eine einfache Empfindung, der zu-
sammengesetzten Form dieser Schwingungen aber eine Mehr-
heit einfacher Empfindungen entspricht, und indem sich zu-
gleich mit der Stärke der Schwingungen die Intensität der
Empfindung, mit der Geschwindigkeit jener die Qualität dieser
stetig verändert, so dass in beiden Richtungen mit wachsen-
dem Unterschied der objectiven physikalischen Reize der
subjective Unterschied der Empfindungen zunimmt. Dieses
Verhältniss ist ein völlig anderes bei den Lichtempfindungen.
Wie der objective Schall, so besteht auch das objective Licht
in Schwingungsbewegungen irgend eines Mediums, deren
nähere Form in diesem Fall freilich noch zweifelhaft ist,
von denen wir aber aus den physikalischen Interferenzver-
suchen wissen, dass sie aus sehr kleinen und sehr schnellen
Wellen bestehen, so zwar, dass diejenigen Schwingungen,

nahme veranlasst, die Empfindung Blau habe sich später entwickelt
als andere Farbenempfindungen, weil z. B. noch bei Homer die Be-
zeichnung für Blau mit der für »Dunkel« zusammenfällt. Zum Ueber-
fluss hat in diesem Fall die Prüfung der Farbenempfindlichkeit bei
Naturvölkern, | deren sprachliche Unterscheidung der Farben oft noch
viel mangelhafter ist, als die der Griechen zur Zeit Homers war, die
gänzliche Grundlosigkeit dieser Annahme erwiesen.
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[76/0092] I. Die psychischen Elemente. 21. Die geschilderten Eigenschaften des Systems der Lichtempfindungen sind so eigenartig, dass sie von vorn- herein ein wesentlich anderes Verhältniss zwischen diesen psychologischen Eigenschaften und den objectiven Vorgängen der Lichtreizung erwarten lassen, als es bei den bisher be- trachteten Empfindungssystemen, namentlich des allgemeinen Sinnes und des Gehörssinnes, besteht. Am auffallendsten ist in dieser Hinsicht der Unterschied von dem System der Tonempfindungen. Bei diesem gilt das Princip des Parallelis- mus zwischen Empfindung und Reiz (S. 54) nicht bloß für den physiologischen, sondern in weitem Umfang auch für den physikalischen Reizungsvorgang, indem der einfachen Form der Schallschwingungen eine einfache Empfindung, der zu- sammengesetzten Form dieser Schwingungen aber eine Mehr- heit einfacher Empfindungen entspricht, und indem sich zu- gleich mit der Stärke der Schwingungen die Intensität der Empfindung, mit der Geschwindigkeit jener die Qualität dieser stetig verändert, so dass in beiden Richtungen mit wachsen- dem Unterschied der objectiven physikalischen Reize der subjective Unterschied der Empfindungen zunimmt. Dieses Verhältniss ist ein völlig anderes bei den Lichtempfindungen. Wie der objective Schall, so besteht auch das objective Licht in Schwingungsbewegungen irgend eines Mediums, deren nähere Form in diesem Fall freilich noch zweifelhaft ist, von denen wir aber aus den physikalischen Interferenzver- suchen wissen, dass sie aus sehr kleinen und sehr schnellen Wellen bestehen, so zwar, dass diejenigen Schwingungen, 1) 1) nahme veranlasst, die Empfindung Blau habe sich später entwickelt als andere Farbenempfindungen, weil z. B. noch bei Homer die Be- zeichnung für Blau mit der für »Dunkel« zusammenfällt. Zum Ueber- fluss hat in diesem Fall die Prüfung der Farbenempfindlichkeit bei Naturvölkern, | deren sprachliche Unterscheidung der Farben oft noch viel mangelhafter ist, als die der Griechen zur Zeit Homers war, die gänzliche Grundlosigkeit dieser Annahme erwiesen.

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/92>, abgerufen am 24.11.2024.