Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.§ 6. Die reinen Empfindungen. lungsgeschichtlich das ursprünglichere. Die einfachen mitOtolithen versehenen Gehörbläschen der niederen Thiere können schwerlich andere als einfache Geräuschempfindungen vermitteln. Auch bei dem Menschen und den höheren Thieren lassen die im Vorhof des Labyrinths getroffenen Einrichtungen bloß eine gleichförmige, der einfachen Ge- räuschempfindung entsprechende Schallerregung vermuthen; und endlich ist es nach Versuchen an labyrinthlosen Thieren (S. 49) wahrscheinlich, dass selbst directe Erregungen der Hörnerven solche Empfindungen hervorrufen können. Da noch in der Entwicklung der höheren Thiere der Schnecken- apparat des Gehörlabyrinths aus dem ursprünglicheren, in seiner Bildungsweise ganz einem primitiven Gehörorgane entsprechenden Vorhofsbläschen hervorgegangen ist, so ist vermuthlich das mannigfaltige System der Tonempfindungen als ein Product der Differenzirung des gleichförmigen Systems der einfachen Geräuschempfindungen anzusehen, wobei aber zugleich überall, wo diese Entwicklung erfolgt ist, das ein- fachere neben dem entwickelteren System fortbesteht. 10. Das System der einfachen Tonempfindungen § 6. Die reinen Empfindungen. lungsgeschichtlich das ursprünglichere. Die einfachen mitOtolithen versehenen Gehörbläschen der niederen Thiere können schwerlich andere als einfache Geräuschempfindungen vermitteln. Auch bei dem Menschen und den höheren Thieren lassen die im Vorhof des Labyrinths getroffenen Einrichtungen bloß eine gleichförmige, der einfachen Ge- räuschempfindung entsprechende Schallerregung vermuthen; und endlich ist es nach Versuchen an labyrinthlosen Thieren (S. 49) wahrscheinlich, dass selbst directe Erregungen der Hörnerven solche Empfindungen hervorrufen können. Da noch in der Entwicklung der höheren Thiere der Schnecken- apparat des Gehörlabyrinths aus dem ursprünglicheren, in seiner Bildungsweise ganz einem primitiven Gehörorgane entsprechenden Vorhofsbläschen hervorgegangen ist, so ist vermuthlich das mannigfaltige System der Tonempfindungen als ein Product der Differenzirung des gleichförmigen Systems der einfachen Geräuschempfindungen anzusehen, wobei aber zugleich überall, wo diese Entwicklung erfolgt ist, das ein- fachere neben dem entwickelteren System fortbesteht. 10. Das System der einfachen Tonempfindungen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0075" n="59"/><fw place="top" type="header">§ 6. Die reinen Empfindungen.</fw><lb/> lungsgeschichtlich das ursprünglichere. Die einfachen mit<lb/> Otolithen versehenen Gehörbläschen der niederen Thiere<lb/> können schwerlich andere als einfache Geräuschempfindungen<lb/> vermitteln. Auch bei dem Menschen und den höheren<lb/> Thieren lassen die im Vorhof des Labyrinths getroffenen<lb/> Einrichtungen bloß eine gleichförmige, der einfachen Ge-<lb/> räuschempfindung entsprechende Schallerregung vermuthen;<lb/> und endlich ist es nach Versuchen an labyrinthlosen Thieren<lb/> (S. 49) wahrscheinlich, dass selbst directe Erregungen der<lb/> Hörnerven solche Empfindungen hervorrufen können. Da<lb/> noch in der Entwicklung der höheren Thiere der Schnecken-<lb/> apparat des Gehörlabyrinths aus dem ursprünglicheren, in<lb/> seiner Bildungsweise ganz einem primitiven Gehörorgane<lb/> entsprechenden Vorhofsbläschen hervorgegangen ist, so ist<lb/> vermuthlich das mannigfaltige System der Tonempfindungen<lb/> als ein Product der Differenzirung des gleichförmigen Systems<lb/> der einfachen Geräuschempfindungen anzusehen, wobei aber<lb/> zugleich überall, wo diese Entwicklung erfolgt ist, das ein-<lb/> fachere neben dem entwickelteren System fortbesteht.</p><lb/> <p>10. Das System der <hi rendition="#g">einfachen Tonempfindungen</hi><lb/> bildet eine stetige Mannigfaltigkeit von <hi rendition="#g">einer</hi> Dimension.<lb/> Wir bezeichnen die Qualität der einzelnen einfachen Ton-<lb/> empfindung als <hi rendition="#g">Tonhöhe</hi>. Die eindimensionale Beschaffen-<lb/> heit des Systems findet darin ihren Ausdruck, dass wir von<lb/> einer gegebenen Tonhöhe aus stets nur nach <hi rendition="#g">zwei</hi> einander<lb/> entgegengesetzten Richtungen die Qualität ändern können:<lb/> die eine dieser Richtungen nennen wir <hi rendition="#g">Erhöhung</hi>, die<lb/> andere <hi rendition="#g">Vertiefung</hi> des Tons. In der wirklichen Erfahrung<lb/> ist uns eine einfache Tonempfindung niemals vollkommen<lb/> rein für sich allein gegeben, sondern theils verbindet sie sich<lb/> mit andern Tonempfindungen theils auch mit begleitenden<lb/> einfachen Geräuschempfindungen. Aber indem diese be-<lb/> gleitenden Elemente nach dem früher (§ 5, 1) gegebenen<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [59/0075]
§ 6. Die reinen Empfindungen.
lungsgeschichtlich das ursprünglichere. Die einfachen mit
Otolithen versehenen Gehörbläschen der niederen Thiere
können schwerlich andere als einfache Geräuschempfindungen
vermitteln. Auch bei dem Menschen und den höheren
Thieren lassen die im Vorhof des Labyrinths getroffenen
Einrichtungen bloß eine gleichförmige, der einfachen Ge-
räuschempfindung entsprechende Schallerregung vermuthen;
und endlich ist es nach Versuchen an labyrinthlosen Thieren
(S. 49) wahrscheinlich, dass selbst directe Erregungen der
Hörnerven solche Empfindungen hervorrufen können. Da
noch in der Entwicklung der höheren Thiere der Schnecken-
apparat des Gehörlabyrinths aus dem ursprünglicheren, in
seiner Bildungsweise ganz einem primitiven Gehörorgane
entsprechenden Vorhofsbläschen hervorgegangen ist, so ist
vermuthlich das mannigfaltige System der Tonempfindungen
als ein Product der Differenzirung des gleichförmigen Systems
der einfachen Geräuschempfindungen anzusehen, wobei aber
zugleich überall, wo diese Entwicklung erfolgt ist, das ein-
fachere neben dem entwickelteren System fortbesteht.
10. Das System der einfachen Tonempfindungen
bildet eine stetige Mannigfaltigkeit von einer Dimension.
Wir bezeichnen die Qualität der einzelnen einfachen Ton-
empfindung als Tonhöhe. Die eindimensionale Beschaffen-
heit des Systems findet darin ihren Ausdruck, dass wir von
einer gegebenen Tonhöhe aus stets nur nach zwei einander
entgegengesetzten Richtungen die Qualität ändern können:
die eine dieser Richtungen nennen wir Erhöhung, die
andere Vertiefung des Tons. In der wirklichen Erfahrung
ist uns eine einfache Tonempfindung niemals vollkommen
rein für sich allein gegeben, sondern theils verbindet sie sich
mit andern Tonempfindungen theils auch mit begleitenden
einfachen Geräuschempfindungen. Aber indem diese be-
gleitenden Elemente nach dem früher (§ 5, 1) gegebenen
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