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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 6. Die reinen Empfindungen.
vielen Fällen verschiedene Reize, sobald sie nur auf die-
selben physiologischen Aufnahmeapparate einwirken, quali-
tativ gleiche Empfindungen auslösen: so beobachtet man
z. B. bei mechanischer oder elektrischer Reizung des Auges
Lichtempfindungen. Indem man dieses Resultat verallgemei-
nerte, gelangte man zu dem Satze, jedes einzelne Auf-
nahmeelement eines Sinnesorgans und jede einzelne sensible
Nervenfaser samt ihrer centralen Endigung sei nur einer
einzigen Empfindung von fest bestimmter Qualität fähig,
und die Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualitäten sei
daher durch die Mannigfaltigkeit jener physiologischen Ele-
mente von specifisch verschiedener Energie verursacht.

Dieser Satz, den man als das "Gesetz der specifischen
Energie" zu bezeichnen pflegt, ist aber, abgesehen davon,
dass er die Ursachen der mannigfaltigen Empfindungsunter-
schiede bloß auf eine qualitas occulta der physiologischen
Sinnes- und Nervenelemente zurückführt, aus drei Gründen
unhaltbar.

1) Derselbe steht im Widerspruch mit der physio-
logischen Entwickelungsgeschichte der Sinne. Wenn, wie
wir nach dieser annehmen müssen, die mannigfaltigen
Empfindungssysteme aus ursprünglich einfacheren und gleich-
förmigeren hervorgegangen sind, so müssen auch die physio-
logischen Sinneselemente veränderlich sein; das ist aber nur
möglich, wenn sie durch die Reize, die auf sie einwirken,
modificirt werden können. Darin liegt eingeschlossen, dass
die Sinneselemente überhaupt erst in secundärer Weise,
nämlich in Folge der Eigenschaften, die sie durch die ihnen
zugeführten Reizungsvorgänge annehmen, die Empfindungs-
qualität bestimmen. Erfahren aber die Sinneselemente im
Laufe längerer Zeit tiefgreifende Veränderungen, die von
der Beschaffenheit der sie treffenden Reize abhängen, so ist
das nur möglich, wenn überhaupt der physiologische Reizungs-

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§ 6. Die reinen Empfindungen.
vielen Fällen verschiedene Reize, sobald sie nur auf die-
selben physiologischen Aufnahmeapparate einwirken, quali-
tativ gleiche Empfindungen auslösen: so beobachtet man
z. B. bei mechanischer oder elektrischer Reizung des Auges
Lichtempfindungen. Indem man dieses Resultat verallgemei-
nerte, gelangte man zu dem Satze, jedes einzelne Auf-
nahmeelement eines Sinnesorgans und jede einzelne sensible
Nervenfaser samt ihrer centralen Endigung sei nur einer
einzigen Empfindung von fest bestimmter Qualität fähig,
und die Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualitäten sei
daher durch die Mannigfaltigkeit jener physiologischen Ele-
mente von specifisch verschiedener Energie verursacht.

Dieser Satz, den man als das »Gesetz der specifischen
Energie« zu bezeichnen pflegt, ist aber, abgesehen davon,
dass er die Ursachen der mannigfaltigen Empfindungsunter-
schiede bloß auf eine qualitas occulta der physiologischen
Sinnes- und Nervenelemente zurückführt, aus drei Gründen
unhaltbar.

1) Derselbe steht im Widerspruch mit der physio-
logischen Entwickelungsgeschichte der Sinne. Wenn, wie
wir nach dieser annehmen müssen, die mannigfaltigen
Empfindungssysteme aus ursprünglich einfacheren und gleich-
förmigeren hervorgegangen sind, so müssen auch die physio-
logischen Sinneselemente veränderlich sein; das ist aber nur
möglich, wenn sie durch die Reize, die auf sie einwirken,
modificirt werden können. Darin liegt eingeschlossen, dass
die Sinneselemente überhaupt erst in secundärer Weise,
nämlich in Folge der Eigenschaften, die sie durch die ihnen
zugeführten Reizungsvorgänge annehmen, die Empfindungs-
qualität bestimmen. Erfahren aber die Sinneselemente im
Laufe längerer Zeit tiefgreifende Veränderungen, die von
der Beschaffenheit der sie treffenden Reize abhängen, so ist
das nur möglich, wenn überhaupt der physiologische Reizungs-

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[51/0067] § 6. Die reinen Empfindungen. vielen Fällen verschiedene Reize, sobald sie nur auf die- selben physiologischen Aufnahmeapparate einwirken, quali- tativ gleiche Empfindungen auslösen: so beobachtet man z. B. bei mechanischer oder elektrischer Reizung des Auges Lichtempfindungen. Indem man dieses Resultat verallgemei- nerte, gelangte man zu dem Satze, jedes einzelne Auf- nahmeelement eines Sinnesorgans und jede einzelne sensible Nervenfaser samt ihrer centralen Endigung sei nur einer einzigen Empfindung von fest bestimmter Qualität fähig, und die Mannigfaltigkeit der Empfindungsqualitäten sei daher durch die Mannigfaltigkeit jener physiologischen Ele- mente von specifisch verschiedener Energie verursacht. Dieser Satz, den man als das »Gesetz der specifischen Energie« zu bezeichnen pflegt, ist aber, abgesehen davon, dass er die Ursachen der mannigfaltigen Empfindungsunter- schiede bloß auf eine qualitas occulta der physiologischen Sinnes- und Nervenelemente zurückführt, aus drei Gründen unhaltbar. 1) Derselbe steht im Widerspruch mit der physio- logischen Entwickelungsgeschichte der Sinne. Wenn, wie wir nach dieser annehmen müssen, die mannigfaltigen Empfindungssysteme aus ursprünglich einfacheren und gleich- förmigeren hervorgegangen sind, so müssen auch die physio- logischen Sinneselemente veränderlich sein; das ist aber nur möglich, wenn sie durch die Reize, die auf sie einwirken, modificirt werden können. Darin liegt eingeschlossen, dass die Sinneselemente überhaupt erst in secundärer Weise, nämlich in Folge der Eigenschaften, die sie durch die ihnen zugeführten Reizungsvorgänge annehmen, die Empfindungs- qualität bestimmen. Erfahren aber die Sinneselemente im Laufe längerer Zeit tiefgreifende Veränderungen, die von der Beschaffenheit der sie treffenden Reize abhängen, so ist das nur möglich, wenn überhaupt der physiologische Reizungs- 4*

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/67>, abgerufen am 28.11.2024.