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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
der Sitte bilden zugleich die Vorbereitung zur Verzweigung
derselben in die drei Lebensgebiete der Sitte, des Rechts
und der Sittlichkeit, von denen die beiden letzteren als
besondere Ausgestaltungen der auf sittlich-sociale Zwecke
gerichteten Sitten zu betrachten sind. Die nähere Unter-
suchung des psychologischen Processes der Entwicklung und
Differenzirung der Sitte überhaupt gehört aber wiederum in
das specielle Gebiet der Völkerpsychologie, die Schilderung
der Entstehung von Recht und Sittlichkeit außerdem in das
der Culturgeschichte und Ethik.

14. In den geistigen Gemeinschaften und insonderheit in
den in ihnen hervortretenden Entwicklungen von Sprache,
Mythus und Sitte treten uns geistige Zusammenhänge und
Wechselwirkungen entgegen, die sich zwar in sehr wesent-
lichen Beziehungen von dem Zusammenhang der Gebilde im
individuellen Bewusstsein unterscheiden, denen aber darum
doch nicht weniger wie diesem Realität zuzuschreiben ist. In
diesem Sinne kann man daher den Zusammenhang der Vor-
stellungen und Gefühle innerhalb einer Volksgemeinschaft als
ein Gesammtbewusstsein und die gemeinsamen Willens-
richtungen als einen Gesammtwillen bezeichnen. Dabei
ist freilich nicht zu vergessen, dass diese Begriffe ebenso
wenig etwas bedeuten, was außerhalb der individuellen Be-
wusstseins- und Willensvorgänge existirt, wie die Gemein-
schaft selbst etwas anderes ist als die Verbindung der
Einzelnen. Indem aber diese Verbindung geistige Erzeug-
nisse hervorbringt, wie Sprache, Mythus und Sitte, zu denen
in dem Einzelnen nur spurweise Anlagen vorhanden sind,
und indem sie für die Entwicklung des Einzelnen von früh
an bestimmend wird, ist sie gerade so gut wie das Einzel-
bewusstsein ein Object der Psychologie. Denn für diese ent-
steht nothwendig die Aufgabe, über jene Wechselwirkungen
Rechenschaft zu geben, aus denen die Erzeugnisse des

§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
der Sitte bilden zugleich die Vorbereitung zur Verzweigung
derselben in die drei Lebensgebiete der Sitte, des Rechts
und der Sittlichkeit, von denen die beiden letzteren als
besondere Ausgestaltungen der auf sittlich-sociale Zwecke
gerichteten Sitten zu betrachten sind. Die nähere Unter-
suchung des psychologischen Processes der Entwicklung und
Differenzirung der Sitte überhaupt gehört aber wiederum in
das specielle Gebiet der Völkerpsychologie, die Schilderung
der Entstehung von Recht und Sittlichkeit außerdem in das
der Culturgeschichte und Ethik.

14. In den geistigen Gemeinschaften und insonderheit in
den in ihnen hervortretenden Entwicklungen von Sprache,
Mythus und Sitte treten uns geistige Zusammenhänge und
Wechselwirkungen entgegen, die sich zwar in sehr wesent-
lichen Beziehungen von dem Zusammenhang der Gebilde im
individuellen Bewusstsein unterscheiden, denen aber darum
doch nicht weniger wie diesem Realität zuzuschreiben ist. In
diesem Sinne kann man daher den Zusammenhang der Vor-
stellungen und Gefühle innerhalb einer Volksgemeinschaft als
ein Gesammtbewusstsein und die gemeinsamen Willens-
richtungen als einen Gesammtwillen bezeichnen. Dabei
ist freilich nicht zu vergessen, dass diese Begriffe ebenso
wenig etwas bedeuten, was außerhalb der individuellen Be-
wusstseins- und Willensvorgänge existirt, wie die Gemein-
schaft selbst etwas anderes ist als die Verbindung der
Einzelnen. Indem aber diese Verbindung geistige Erzeug-
nisse hervorbringt, wie Sprache, Mythus und Sitte, zu denen
in dem Einzelnen nur spurweise Anlagen vorhanden sind,
und indem sie für die Entwicklung des Einzelnen von früh
an bestimmend wird, ist sie gerade so gut wie das Einzel-
bewusstsein ein Object der Psychologie. Denn für diese ent-
steht nothwendig die Aufgabe, über jene Wechselwirkungen
Rechenschaft zu geben, aus denen die Erzeugnisse des

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[361/0377] § 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften. der Sitte bilden zugleich die Vorbereitung zur Verzweigung derselben in die drei Lebensgebiete der Sitte, des Rechts und der Sittlichkeit, von denen die beiden letzteren als besondere Ausgestaltungen der auf sittlich-sociale Zwecke gerichteten Sitten zu betrachten sind. Die nähere Unter- suchung des psychologischen Processes der Entwicklung und Differenzirung der Sitte überhaupt gehört aber wiederum in das specielle Gebiet der Völkerpsychologie, die Schilderung der Entstehung von Recht und Sittlichkeit außerdem in das der Culturgeschichte und Ethik. 14. In den geistigen Gemeinschaften und insonderheit in den in ihnen hervortretenden Entwicklungen von Sprache, Mythus und Sitte treten uns geistige Zusammenhänge und Wechselwirkungen entgegen, die sich zwar in sehr wesent- lichen Beziehungen von dem Zusammenhang der Gebilde im individuellen Bewusstsein unterscheiden, denen aber darum doch nicht weniger wie diesem Realität zuzuschreiben ist. In diesem Sinne kann man daher den Zusammenhang der Vor- stellungen und Gefühle innerhalb einer Volksgemeinschaft als ein Gesammtbewusstsein und die gemeinsamen Willens- richtungen als einen Gesammtwillen bezeichnen. Dabei ist freilich nicht zu vergessen, dass diese Begriffe ebenso wenig etwas bedeuten, was außerhalb der individuellen Be- wusstseins- und Willensvorgänge existirt, wie die Gemein- schaft selbst etwas anderes ist als die Verbindung der Einzelnen. Indem aber diese Verbindung geistige Erzeug- nisse hervorbringt, wie Sprache, Mythus und Sitte, zu denen in dem Einzelnen nur spurweise Anlagen vorhanden sind, und indem sie für die Entwicklung des Einzelnen von früh an bestimmend wird, ist sie gerade so gut wie das Einzel- bewusstsein ein Object der Psychologie. Denn für diese ent- steht nothwendig die Aufgabe, über jene Wechselwirkungen Rechenschaft zu geben, aus denen die Erzeugnisse des

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/377>, abgerufen am 28.11.2024.