erzählt werden können. Diese natürlich entstandene Ge- berdensprache beschränkt sich jedoch stets auf die Mit- theilung concreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zu- sammenhangs; an Zeichen für abstracte Begriffe fehlt es ihr vollständig.
4. Die ursprüngliche Entwicklung einer Lautsprache lässt sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser Entstehung der natürlichen Geberdensprache denken, nur dass die Hörfähigkeit zu den mimischen und pantomimischen Geberden noch als eine dritte Form die Lautgeberden hinzufügen wird, die, weil sie nicht bloß leichter wahr- nehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modificationen zulassen, nothwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen müssen. Wie aber die mimische und pantomimische Ge- berde ihre Verständlichkeit der unmittelbaren Beziehung verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Be- wegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche Beziehung auch für die ursprünglichen Lautgeberden vor- auszusetzen sein. Ueberdies ist es nicht unwahrscheinlich, dass dieselben zuerst durch begleitende mimische und panto- mimische Geberden unterstützt wurden, entsprechend der durchgängig zu beobachtenden ungehemmteren Aeußerung solcher beim Naturmenschen, sowie der Rolle, die ihnen beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein Process der Differenzirung zu denken, bei welchem aus einer Menge verschiedenartiger sich wechselseitig unter- stützender Ausdrucksbewegungen allmählich die Lautgeberde als die allein übrig bleibende hervorging, die jene andern Hülfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend fixirt hatte. Psychologisch lässt sich hiernach dieser Process in eine Aufeinanderfolge von zwei Acten zerlegen: in die in der Form triebartiger Willenshandlungen von den ein-
§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
erzählt werden können. Diese natürlich entstandene Ge- berdensprache beschränkt sich jedoch stets auf die Mit- theilung concreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zu- sammenhangs; an Zeichen für abstracte Begriffe fehlt es ihr vollständig.
4. Die ursprüngliche Entwicklung einer Lautsprache lässt sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser Entstehung der natürlichen Geberdensprache denken, nur dass die Hörfähigkeit zu den mimischen und pantomimischen Geberden noch als eine dritte Form die Lautgeberden hinzufügen wird, die, weil sie nicht bloß leichter wahr- nehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modificationen zulassen, nothwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen müssen. Wie aber die mimische und pantomimische Ge- berde ihre Verständlichkeit der unmittelbaren Beziehung verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Be- wegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche Beziehung auch für die ursprünglichen Lautgeberden vor- auszusetzen sein. Ueberdies ist es nicht unwahrscheinlich, dass dieselben zuerst durch begleitende mimische und panto- mimische Geberden unterstützt wurden, entsprechend der durchgängig zu beobachtenden ungehemmteren Aeußerung solcher beim Naturmenschen, sowie der Rolle, die ihnen beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein Process der Differenzirung zu denken, bei welchem aus einer Menge verschiedenartiger sich wechselseitig unter- stützender Ausdrucksbewegungen allmählich die Lautgeberde als die allein übrig bleibende hervorging, die jene andern Hülfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend fixirt hatte. Psychologisch lässt sich hiernach dieser Process in eine Aufeinanderfolge von zwei Acten zerlegen: in die in der Form triebartiger Willenshandlungen von den ein-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0367"n="351"/><fwplace="top"type="header">§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.</fw><lb/>
erzählt werden können. Diese natürlich entstandene Ge-<lb/>
berdensprache beschränkt sich jedoch stets auf die Mit-<lb/>
theilung concreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zu-<lb/>
sammenhangs; an Zeichen für abstracte Begriffe fehlt es<lb/>
ihr vollständig.</p><lb/><p>4. Die ursprüngliche Entwicklung einer <hirendition="#g">Lautsprache</hi><lb/>
lässt sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser<lb/>
Entstehung der natürlichen Geberdensprache denken, nur<lb/>
dass die Hörfähigkeit zu den mimischen und pantomimischen<lb/>
Geberden noch als eine dritte Form die <hirendition="#g">Lautgeberden</hi><lb/>
hinzufügen wird, die, weil sie nicht bloß leichter wahr-<lb/>
nehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modificationen<lb/>
zulassen, nothwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen<lb/>
müssen. Wie aber die mimische und pantomimische Ge-<lb/>
berde ihre Verständlichkeit der unmittelbaren Beziehung<lb/>
verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Be-<lb/>
wegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche<lb/>
Beziehung auch für die ursprünglichen Lautgeberden vor-<lb/>
auszusetzen sein. Ueberdies ist es nicht unwahrscheinlich,<lb/>
dass dieselben zuerst durch begleitende mimische und panto-<lb/>
mimische Geberden unterstützt wurden, entsprechend der<lb/>
durchgängig zu beobachtenden ungehemmteren Aeußerung<lb/>
solcher beim Naturmenschen, sowie der Rolle, die ihnen<lb/>
beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist<lb/>
die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein<lb/>
Process der Differenzirung zu denken, bei welchem aus<lb/>
einer Menge verschiedenartiger sich wechselseitig unter-<lb/>
stützender Ausdrucksbewegungen allmählich die Lautgeberde<lb/>
als die allein übrig bleibende hervorging, die jene andern<lb/>
Hülfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend<lb/>
fixirt hatte. Psychologisch lässt sich hiernach dieser Process<lb/>
in eine Aufeinanderfolge von <hirendition="#g">zwei</hi> Acten zerlegen: in die<lb/>
in der Form triebartiger Willenshandlungen von den ein-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[351/0367]
§ 21. Die Entwicklung geistiger Gemeinschaften.
erzählt werden können. Diese natürlich entstandene Ge-
berdensprache beschränkt sich jedoch stets auf die Mit-
theilung concreter sinnlicher Vorstellungen und ihres Zu-
sammenhangs; an Zeichen für abstracte Begriffe fehlt es
ihr vollständig.
4. Die ursprüngliche Entwicklung einer Lautsprache
lässt sich nun nicht wohl anders als nach Analogie dieser
Entstehung der natürlichen Geberdensprache denken, nur
dass die Hörfähigkeit zu den mimischen und pantomimischen
Geberden noch als eine dritte Form die Lautgeberden
hinzufügen wird, die, weil sie nicht bloß leichter wahr-
nehmbar sind, sondern auch ungleich reichere Modificationen
zulassen, nothwendig bald den Vorzug vor jenen gewinnen
müssen. Wie aber die mimische und pantomimische Ge-
berde ihre Verständlichkeit der unmittelbaren Beziehung
verdankt, die bei ihr zwischen der Beschaffenheit der Be-
wegungen und ihrer Bedeutung besteht, so wird eine solche
Beziehung auch für die ursprünglichen Lautgeberden vor-
auszusetzen sein. Ueberdies ist es nicht unwahrscheinlich,
dass dieselben zuerst durch begleitende mimische und panto-
mimische Geberden unterstützt wurden, entsprechend der
durchgängig zu beobachtenden ungehemmteren Aeußerung
solcher beim Naturmenschen, sowie der Rolle, die ihnen
beim Sprechenlernen des Kindes zukommt. Demnach ist
die Entwicklung der Lautsprache wahrscheinlich als ein
Process der Differenzirung zu denken, bei welchem aus
einer Menge verschiedenartiger sich wechselseitig unter-
stützender Ausdrucksbewegungen allmählich die Lautgeberde
als die allein übrig bleibende hervorging, die jene andern
Hülfsmittel erst abstreifte, als sie selbst sich zureichend
fixirt hatte. Psychologisch lässt sich hiernach dieser Process
in eine Aufeinanderfolge von zwei Acten zerlegen: in die
in der Form triebartiger Willenshandlungen von den ein-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 351. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/367>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.