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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 20. Die psychische Entwicklung des Kindes.
der eigenen Glieder, der Arme und Beine, die dann auch
auf äußere Gegenstände, mit Vorliebe namentlich auf schall-
erregende oder auf lebhaft gefärbte, übertragen werden. In
ihrem Ursprung sind diese Bewegungen offenbar Trieb-
äußerungen, die durch bestimmte Empfindungsreize ausgelöst
werden, und deren zweckmäßige Coordination auf vererbten
Anlagen des centralen Nervensystems beruht. Die rhyth-
mische Ordnung der Bewegungen sowie der von ihnen her-
vorgerufenen Gefühls- und Schalleindrücke erzeugt dann
aber sichtlich Lustgefühle, die sehr bald die willkürliche
Wiederholung solcher Bewegungen veranlassen. Hierauf geht
das Spiel in den ersten Lebensjahren allmählich in die
willkürliche Nachbildung von Beschäftigungen und Scenen
der Umgebung über. Dieses Nachahmungsspiel zieht end-
lich weitere Kreise, indem es nicht mehr auf die Nach-
bildung des Gesehenen beschränkt bleibt, sondern zur freien
Nacherzeugung des in Erzählungen Gehörten wird. Gleich-
zeitig beginnt der Zusammenhang der Vorstellungen und
Handlungen einem festeren Plan sich zu fügen: damit tritt
bereits die regulirende Verstandesthätigkeit ein, die in den
Spielen des späteren Kindesalters in der Feststellung be-
stimmter Spielregeln ihren Ausdruck findet. Mögen auch
diese Uebergänge durch die Einflüsse der Umgebung und
durch die künstlichen Spielformen, die, zumeist Erfindungen
Erwachsener, nicht immer der kindlichen Phantasie zureichend
sich anpassen, beschleunigt werden, so ist doch diese Ent-
wicklung durch ihre Uebereinstimmung mit der gesammten
Ausbildung der intellectuellen Functionen als eine natürliche,
in dem wechselseitigen Zusammenhang der associativen und
apperceptiven Processe nothwendig begründete zu erkennen.
Zugleich macht es die Art, wie hierbei die allmähliche Be-
schränkung der Phantasievorgänge mit der Zunahme der
Verstandesfunctionen zusammengeht, wahrscheinlich, dass

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der eigenen Glieder, der Arme und Beine, die dann auch
auf äußere Gegenstände, mit Vorliebe namentlich auf schall-
erregende oder auf lebhaft gefärbte, übertragen werden. In
ihrem Ursprung sind diese Bewegungen offenbar Trieb-
äußerungen, die durch bestimmte Empfindungsreize ausgelöst
werden, und deren zweckmäßige Coordination auf vererbten
Anlagen des centralen Nervensystems beruht. Die rhyth-
mische Ordnung der Bewegungen sowie der von ihnen her-
vorgerufenen Gefühls- und Schalleindrücke erzeugt dann
aber sichtlich Lustgefühle, die sehr bald die willkürliche
Wiederholung solcher Bewegungen veranlassen. Hierauf geht
das Spiel in den ersten Lebensjahren allmählich in die
willkürliche Nachbildung von Beschäftigungen und Scenen
der Umgebung über. Dieses Nachahmungsspiel zieht end-
lich weitere Kreise, indem es nicht mehr auf die Nach-
bildung des Gesehenen beschränkt bleibt, sondern zur freien
Nacherzeugung des in Erzählungen Gehörten wird. Gleich-
zeitig beginnt der Zusammenhang der Vorstellungen und
Handlungen einem festeren Plan sich zu fügen: damit tritt
bereits die regulirende Verstandesthätigkeit ein, die in den
Spielen des späteren Kindesalters in der Feststellung be-
stimmter Spielregeln ihren Ausdruck findet. Mögen auch
diese Uebergänge durch die Einflüsse der Umgebung und
durch die künstlichen Spielformen, die, zumeist Erfindungen
Erwachsener, nicht immer der kindlichen Phantasie zureichend
sich anpassen, beschleunigt werden, so ist doch diese Ent-
wicklung durch ihre Uebereinstimmung mit der gesammten
Ausbildung der intellectuellen Functionen als eine natürliche,
in dem wechselseitigen Zusammenhang der associativen und
apperceptiven Processe nothwendig begründete zu erkennen.
Zugleich macht es die Art, wie hierbei die allmähliche Be-
schränkung der Phantasievorgänge mit der Zunahme der
Verstandesfunctionen zusammengeht, wahrscheinlich, dass

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[345/0361] § 20. Die psychische Entwicklung des Kindes. der eigenen Glieder, der Arme und Beine, die dann auch auf äußere Gegenstände, mit Vorliebe namentlich auf schall- erregende oder auf lebhaft gefärbte, übertragen werden. In ihrem Ursprung sind diese Bewegungen offenbar Trieb- äußerungen, die durch bestimmte Empfindungsreize ausgelöst werden, und deren zweckmäßige Coordination auf vererbten Anlagen des centralen Nervensystems beruht. Die rhyth- mische Ordnung der Bewegungen sowie der von ihnen her- vorgerufenen Gefühls- und Schalleindrücke erzeugt dann aber sichtlich Lustgefühle, die sehr bald die willkürliche Wiederholung solcher Bewegungen veranlassen. Hierauf geht das Spiel in den ersten Lebensjahren allmählich in die willkürliche Nachbildung von Beschäftigungen und Scenen der Umgebung über. Dieses Nachahmungsspiel zieht end- lich weitere Kreise, indem es nicht mehr auf die Nach- bildung des Gesehenen beschränkt bleibt, sondern zur freien Nacherzeugung des in Erzählungen Gehörten wird. Gleich- zeitig beginnt der Zusammenhang der Vorstellungen und Handlungen einem festeren Plan sich zu fügen: damit tritt bereits die regulirende Verstandesthätigkeit ein, die in den Spielen des späteren Kindesalters in der Feststellung be- stimmter Spielregeln ihren Ausdruck findet. Mögen auch diese Uebergänge durch die Einflüsse der Umgebung und durch die künstlichen Spielformen, die, zumeist Erfindungen Erwachsener, nicht immer der kindlichen Phantasie zureichend sich anpassen, beschleunigt werden, so ist doch diese Ent- wicklung durch ihre Uebereinstimmung mit der gesammten Ausbildung der intellectuellen Functionen als eine natürliche, in dem wechselseitigen Zusammenhang der associativen und apperceptiven Processe nothwendig begründete zu erkennen. Zugleich macht es die Art, wie hierbei die allmähliche Be- schränkung der Phantasievorgänge mit der Zunahme der Verstandesfunctionen zusammengeht, wahrscheinlich, dass

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/361>, abgerufen am 24.11.2024.