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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.
gewissen besonderen Fällen, in denen durch die Bedingungen
der Beobachtung eine Vergleichung absoluter Größenunter-
schiede nahe gelegt wird, statt der Constanz der relativen
eine Constanz der absoluten Unterschiedsschwelle gefunden
worden ist: so z. B. in weitem Umfang bei der Vergleichung
minimaler Tonhöhenunterschiede. Ebenso wurden in vielen
Fällen bei der Vergleichung von größeren Empfindungs-
strecken nach der dritten der oben (S. 298) angegebenen
Methoden gleiche absolute, nicht gleiche relative Reizunter-
schiede als gleich aufgefasst. Hieraus ergibt sich, dass die
apperceptive Vergleichung unter abweichenden Bedingungen
zwei verschiedenen Principien folgt, einem Princip der
relativen Vergleichung, das in dem Weber'schen Gesetz
seinen Ausdruck findet und als das allgemeinere betrachtet
werden muss, und einem Princip der absoluten Vergleich-
ung, welches unter besonderen, eine solche Auffassung be-
günstigenden Bedingungen an die Stelle des vorigen tritt.

10a. Das Weber'sche Gesetz ist in erster Linie für
Empfindungsintensitäten und sodann noch in gewissem Umfang
für die Vergleichung extensiver Gebilde, namentlich zeitlicher
Vorstellungen sowie in gewissen Grenzen auch für die räumlichen
Gesichtsvorstellungen und für die Bewegungsvorstellungen, nach-
gewiesen. Dagegen trifft es für die extensiven Vorstellungen des
äußeren Tastsinns, offenbar wegen der verwickelten Abstufungen
der Localzeichen (S. 124), nicht zu. Ebenso lässt es sich durch-
gängig bei den Empfindungsqualitäten nicht bestätigen. Bei
der Vergleichung der Tonhöhen erweist sich in weiten Grenzen
nicht die relative, sondern die absolute Unterschiedsschwelle als
constant. Doch ist die Abstufung der Tonintervalle wieder eine
relative, indem jedes Intervall einem bestimmten Verhältniss
der Schwingungszahlen entspricht (z. B. Octave 1 : 2, Quinte 2 : 3
u. s. w.); dies beruht aber wahrscheinlich auf den durch die Ver-
hältnisse eines Grundtons zu seinen Obertönen bestimmten Eigen-
schaften der Klangverwandtschaft. (Vgl. S. 113 ff.) Wo an Stelle
des Weber'schen Relativitätsgesetzes eine absolute Größen-

III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde.
gewissen besonderen Fällen, in denen durch die Bedingungen
der Beobachtung eine Vergleichung absoluter Größenunter-
schiede nahe gelegt wird, statt der Constanz der relativen
eine Constanz der absoluten Unterschiedsschwelle gefunden
worden ist: so z. B. in weitem Umfang bei der Vergleichung
minimaler Tonhöhenunterschiede. Ebenso wurden in vielen
Fällen bei der Vergleichung von größeren Empfindungs-
strecken nach der dritten der oben (S. 298) angegebenen
Methoden gleiche absolute, nicht gleiche relative Reizunter-
schiede als gleich aufgefasst. Hieraus ergibt sich, dass die
apperceptive Vergleichung unter abweichenden Bedingungen
zwei verschiedenen Principien folgt, einem Princip der
relativen Vergleichung, das in dem Weber’schen Gesetz
seinen Ausdruck findet und als das allgemeinere betrachtet
werden muss, und einem Princip der absoluten Vergleich-
ung, welches unter besonderen, eine solche Auffassung be-
günstigenden Bedingungen an die Stelle des vorigen tritt.

10a. Das Weber’sche Gesetz ist in erster Linie für
Empfindungsintensitäten und sodann noch in gewissem Umfang
für die Vergleichung extensiver Gebilde, namentlich zeitlicher
Vorstellungen sowie in gewissen Grenzen auch für die räumlichen
Gesichtsvorstellungen und für die Bewegungsvorstellungen, nach-
gewiesen. Dagegen trifft es für die extensiven Vorstellungen des
äußeren Tastsinns, offenbar wegen der verwickelten Abstufungen
der Localzeichen (S. 124), nicht zu. Ebenso lässt es sich durch-
gängig bei den Empfindungsqualitäten nicht bestätigen. Bei
der Vergleichung der Tonhöhen erweist sich in weiten Grenzen
nicht die relative, sondern die absolute Unterschiedsschwelle als
constant. Doch ist die Abstufung der Tonintervalle wieder eine
relative, indem jedes Intervall einem bestimmten Verhältniss
der Schwingungszahlen entspricht (z. B. Octave 1 : 2, Quinte 2 : 3
u. s. w.); dies beruht aber wahrscheinlich auf den durch die Ver-
hältnisse eines Grundtons zu seinen Obertönen bestimmten Eigen-
schaften der Klangverwandtschaft. (Vgl. S. 113 ff.) Wo an Stelle
des Weber’schen Relativitätsgesetzes eine absolute Größen-

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[300/0316] III. Der Zusammenhang der psychischen Gebilde. gewissen besonderen Fällen, in denen durch die Bedingungen der Beobachtung eine Vergleichung absoluter Größenunter- schiede nahe gelegt wird, statt der Constanz der relativen eine Constanz der absoluten Unterschiedsschwelle gefunden worden ist: so z. B. in weitem Umfang bei der Vergleichung minimaler Tonhöhenunterschiede. Ebenso wurden in vielen Fällen bei der Vergleichung von größeren Empfindungs- strecken nach der dritten der oben (S. 298) angegebenen Methoden gleiche absolute, nicht gleiche relative Reizunter- schiede als gleich aufgefasst. Hieraus ergibt sich, dass die apperceptive Vergleichung unter abweichenden Bedingungen zwei verschiedenen Principien folgt, einem Princip der relativen Vergleichung, das in dem Weber’schen Gesetz seinen Ausdruck findet und als das allgemeinere betrachtet werden muss, und einem Princip der absoluten Vergleich- ung, welches unter besonderen, eine solche Auffassung be- günstigenden Bedingungen an die Stelle des vorigen tritt. 10a. Das Weber’sche Gesetz ist in erster Linie für Empfindungsintensitäten und sodann noch in gewissem Umfang für die Vergleichung extensiver Gebilde, namentlich zeitlicher Vorstellungen sowie in gewissen Grenzen auch für die räumlichen Gesichtsvorstellungen und für die Bewegungsvorstellungen, nach- gewiesen. Dagegen trifft es für die extensiven Vorstellungen des äußeren Tastsinns, offenbar wegen der verwickelten Abstufungen der Localzeichen (S. 124), nicht zu. Ebenso lässt es sich durch- gängig bei den Empfindungsqualitäten nicht bestätigen. Bei der Vergleichung der Tonhöhen erweist sich in weiten Grenzen nicht die relative, sondern die absolute Unterschiedsschwelle als constant. Doch ist die Abstufung der Tonintervalle wieder eine relative, indem jedes Intervall einem bestimmten Verhältniss der Schwingungszahlen entspricht (z. B. Octave 1 : 2, Quinte 2 : 3 u. s. w.); dies beruht aber wahrscheinlich auf den durch die Ver- hältnisse eines Grundtons zu seinen Obertönen bestimmten Eigen- schaften der Klangverwandtschaft. (Vgl. S. 113 ff.) Wo an Stelle des Weber’schen Relativitätsgesetzes eine absolute Größen-

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/316>, abgerufen am 24.11.2024.