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Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

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§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.
können von geläufigen einsilbigen Wörtern noch 2 oder selbst 3
appercipirt werden, was einer Anzahl von 10 bis 12 einzelnen
Buchstaben entspricht. Unter allen Umständen ist demnach die
von Manchen ausgesprochene Behauptung unrichtig, dass sich
unsere Aufmerksamkeit in einem gegebenen Moment nur auf
eine Vorstellung richte.

Nicht minder widerlegen diese Beobachtungen die zuweilen
gehegte Annahme, dass die Aufmerksamkeit stetig und mit sehr
großer Geschwindigkeit eine Menge einzelner Vorstellungen durch-
laufen könne. Versucht man nämlich bei dem obigen Experiment
das momentan nach geschehenem Eindruck deutlich wahrgenom-
mene Bild mittelst der Erinnerung zu ergänzen, so zeigt es sich,
dass man einer sehr merklichen Zeit bedarf, um sich einen im
ersten Augenblick nicht appercipirten Eindruck klar zu ver-
gegenwärtigen, und dass bei diesem Vorgang stets zugleich das
zuerst appercipirte Bild der Aufmerksamkeit entschwindet. Dem-
nach ist die successive Bewegung der Aufmerksamkeit über eine
Vielheit psychischer Inhalte stets ein discontinuirlicher Vor-
gang, der aus einer Mehrzahl auf einander folgender gesonderter
Apperceptionsacte besteht. Diese Discontinuität ist daraus erklär-
lich, dass sich jede einzelne Apperception aus einer Periode
wachsender und einer solchen abnehmender Spannung zusammen-
setzt. Die zwischen beiden liegende maximale Spannung kann in
ihrer zeitlichen Dauer beträchtlich variiren: entweder ist sie, wie
bei momentanen und rasch wechselnden Eindrücken, sehr kurz,
oder, bei einseitiger Richtung auf bestimmte Objecte, länger
dauernd. Selbst bei der Richtung der Aufmerksamkeit auf Ob-
jecte von constanter Beschaffenheit ist jedoch eine zeitweilige
Unterbrechung durch Perioden der abwechselnden Entspannung
und Wiederanspannung unerlässlich. Dies kann man schon bei den
gewöhnlichen Functionen der Aufmerksamkeit leicht beobachten.
Nähere Aufschlüsse gewährt aber auch hier die experimentelle
Beobachtung. Lässt man nämlich, während alle sonstigen Sinnes-
reize möglichst ferngehalten werden, einen schwachen, continuirlich
andauernden Eindruck, auf den zugleich die Aufmerksamkeit
gerichtet wird, auf ein Sinnesorgan einwirken, so beobachtet
man, dass der Eindruck in gewissen, meist unregelmäßigen Inter-
vallen, die bei sehr schwachen Eindrücken schon nach 3--6",
bei etwas stärkeren erst nach 18--24" eintreten, für eine kurze

§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.
können von geläufigen einsilbigen Wörtern noch 2 oder selbst 3
appercipirt werden, was einer Anzahl von 10 bis 12 einzelnen
Buchstaben entspricht. Unter allen Umständen ist demnach die
von Manchen ausgesprochene Behauptung unrichtig, dass sich
unsere Aufmerksamkeit in einem gegebenen Moment nur auf
eine Vorstellung richte.

Nicht minder widerlegen diese Beobachtungen die zuweilen
gehegte Annahme, dass die Aufmerksamkeit stetig und mit sehr
großer Geschwindigkeit eine Menge einzelner Vorstellungen durch-
laufen könne. Versucht man nämlich bei dem obigen Experiment
das momentan nach geschehenem Eindruck deutlich wahrgenom-
mene Bild mittelst der Erinnerung zu ergänzen, so zeigt es sich,
dass man einer sehr merklichen Zeit bedarf, um sich einen im
ersten Augenblick nicht appercipirten Eindruck klar zu ver-
gegenwärtigen, und dass bei diesem Vorgang stets zugleich das
zuerst appercipirte Bild der Aufmerksamkeit entschwindet. Dem-
nach ist die successive Bewegung der Aufmerksamkeit über eine
Vielheit psychischer Inhalte stets ein discontinuirlicher Vor-
gang, der aus einer Mehrzahl auf einander folgender gesonderter
Apperceptionsacte besteht. Diese Discontinuität ist daraus erklär-
lich, dass sich jede einzelne Apperception aus einer Periode
wachsender und einer solchen abnehmender Spannung zusammen-
setzt. Die zwischen beiden liegende maximale Spannung kann in
ihrer zeitlichen Dauer beträchtlich variiren: entweder ist sie, wie
bei momentanen und rasch wechselnden Eindrücken, sehr kurz,
oder, bei einseitiger Richtung auf bestimmte Objecte, länger
dauernd. Selbst bei der Richtung der Aufmerksamkeit auf Ob-
jecte von constanter Beschaffenheit ist jedoch eine zeitweilige
Unterbrechung durch Perioden der abwechselnden Entspannung
und Wiederanspannung unerlässlich. Dies kann man schon bei den
gewöhnlichen Functionen der Aufmerksamkeit leicht beobachten.
Nähere Aufschlüsse gewährt aber auch hier die experimentelle
Beobachtung. Lässt man nämlich, während alle sonstigen Sinnes-
reize möglichst ferngehalten werden, einen schwachen, continuirlich
andauernden Eindruck, auf den zugleich die Aufmerksamkeit
gerichtet wird, auf ein Sinnesorgan einwirken, so beobachtet
man, dass der Eindruck in gewissen, meist unregelmäßigen Inter-
vallen, die bei sehr schwachen Eindrücken schon nach 3—6″,
bei etwas stärkeren erst nach 18—24″ eintreten, für eine kurze

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[249/0265] § 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit. können von geläufigen einsilbigen Wörtern noch 2 oder selbst 3 appercipirt werden, was einer Anzahl von 10 bis 12 einzelnen Buchstaben entspricht. Unter allen Umständen ist demnach die von Manchen ausgesprochene Behauptung unrichtig, dass sich unsere Aufmerksamkeit in einem gegebenen Moment nur auf eine Vorstellung richte. Nicht minder widerlegen diese Beobachtungen die zuweilen gehegte Annahme, dass die Aufmerksamkeit stetig und mit sehr großer Geschwindigkeit eine Menge einzelner Vorstellungen durch- laufen könne. Versucht man nämlich bei dem obigen Experiment das momentan nach geschehenem Eindruck deutlich wahrgenom- mene Bild mittelst der Erinnerung zu ergänzen, so zeigt es sich, dass man einer sehr merklichen Zeit bedarf, um sich einen im ersten Augenblick nicht appercipirten Eindruck klar zu ver- gegenwärtigen, und dass bei diesem Vorgang stets zugleich das zuerst appercipirte Bild der Aufmerksamkeit entschwindet. Dem- nach ist die successive Bewegung der Aufmerksamkeit über eine Vielheit psychischer Inhalte stets ein discontinuirlicher Vor- gang, der aus einer Mehrzahl auf einander folgender gesonderter Apperceptionsacte besteht. Diese Discontinuität ist daraus erklär- lich, dass sich jede einzelne Apperception aus einer Periode wachsender und einer solchen abnehmender Spannung zusammen- setzt. Die zwischen beiden liegende maximale Spannung kann in ihrer zeitlichen Dauer beträchtlich variiren: entweder ist sie, wie bei momentanen und rasch wechselnden Eindrücken, sehr kurz, oder, bei einseitiger Richtung auf bestimmte Objecte, länger dauernd. Selbst bei der Richtung der Aufmerksamkeit auf Ob- jecte von constanter Beschaffenheit ist jedoch eine zeitweilige Unterbrechung durch Perioden der abwechselnden Entspannung und Wiederanspannung unerlässlich. Dies kann man schon bei den gewöhnlichen Functionen der Aufmerksamkeit leicht beobachten. Nähere Aufschlüsse gewährt aber auch hier die experimentelle Beobachtung. Lässt man nämlich, während alle sonstigen Sinnes- reize möglichst ferngehalten werden, einen schwachen, continuirlich andauernden Eindruck, auf den zugleich die Aufmerksamkeit gerichtet wird, auf ein Sinnesorgan einwirken, so beobachtet man, dass der Eindruck in gewissen, meist unregelmäßigen Inter- vallen, die bei sehr schwachen Eindrücken schon nach 3—6″, bei etwas stärkeren erst nach 18—24″ eintreten, für eine kurze

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Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 249. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/265>, abgerufen am 25.11.2024.