Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite
§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.

Das Bewusstsein in dieser Bedeutung eines umfassen-
deren Zusammenhangs der gleichzeitigen und der in der
Zeit sich folgenden psychischen Vorgänge tritt uns in der
Erfahrung zunächst in den psychischen Lebensäußerungen
des Individuums entgegen, als individuelles Bewusst-
sein
. Da aber ein analoger Zusammenhang auch bei Ver-
bindungen von Individuen, wenngleich beschränkt auf ge-
gewisse Seiten des psychischen Lebens, vorkommen kann,
so können die Begriffe eines Gesammtbewusstseins,
eines Volksbewusstseins u. dergl. dem nämlichen Allge-
meinbegriffe untergeordnet werden. Für alle diese weiteren
Bewusstseinsformen bildet jedoch das individuelle Bewusst-
sein, auf dessen Betrachtung wir uns hier zunächst be-
schränken werden, die Grundlage. (Ueber den Begriff des
Gesammtbewusstseins vgl. unten § 21, 14.)

2. Das individuelle Bewusstsein steht nun unter den-
selben äußeren Bedingungen wie der Thatbestand des psychi-
schen Geschehens überhaupt, für den es nur ein anderer,
speciell die wechselseitigen Beziehungen der Bestandtheile
desselben hervorhebender Ausdruck ist. Als Träger der
Symptome eines individuellen Bewusstseins ist uns überall
ein individueller thierischer Organismus gegeben, und in
diesem erscheint wieder bei dem Menschen und den ihm
ähnlichen höheren Thieren, die Rinde des Großhirns, in
deren Zellen- und Fasernetzen die sämmtlichen zu den psy-
chischen Vorgängen in Beziehung stehenden Organe ver-
treten sind, als das nächste Organ des Bewusstseins. Den
durchgängigen Zusammenhang der Rindenelemente des Ge-
hirns können wir als den physiologischen Ausdruck des
im Bewusstsein gegebenen Zusammenhangs der psychischen
Vorgänge, die Functionstheilung der verschiedenen Rin-
dengebiete als das physiologische Correlat der mannig-
fachen Verschiedenheiten der einzelnen Bewusstseinsvorgänge

§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.

Das Bewusstsein in dieser Bedeutung eines umfassen-
deren Zusammenhangs der gleichzeitigen und der in der
Zeit sich folgenden psychischen Vorgänge tritt uns in der
Erfahrung zunächst in den psychischen Lebensäußerungen
des Individuums entgegen, als individuelles Bewusst-
sein
. Da aber ein analoger Zusammenhang auch bei Ver-
bindungen von Individuen, wenngleich beschränkt auf ge-
gewisse Seiten des psychischen Lebens, vorkommen kann,
so können die Begriffe eines Gesammtbewusstseins,
eines Volksbewusstseins u. dergl. dem nämlichen Allge-
meinbegriffe untergeordnet werden. Für alle diese weiteren
Bewusstseinsformen bildet jedoch das individuelle Bewusst-
sein, auf dessen Betrachtung wir uns hier zunächst be-
schränken werden, die Grundlage. (Ueber den Begriff des
Gesammtbewusstseins vgl. unten § 21, 14.)

2. Das individuelle Bewusstsein steht nun unter den-
selben äußeren Bedingungen wie der Thatbestand des psychi-
schen Geschehens überhaupt, für den es nur ein anderer,
speciell die wechselseitigen Beziehungen der Bestandtheile
desselben hervorhebender Ausdruck ist. Als Träger der
Symptome eines individuellen Bewusstseins ist uns überall
ein individueller thierischer Organismus gegeben, und in
diesem erscheint wieder bei dem Menschen und den ihm
ähnlichen höheren Thieren, die Rinde des Großhirns, in
deren Zellen- und Fasernetzen die sämmtlichen zu den psy-
chischen Vorgängen in Beziehung stehenden Organe ver-
treten sind, als das nächste Organ des Bewusstseins. Den
durchgängigen Zusammenhang der Rindenelemente des Ge-
hirns können wir als den physiologischen Ausdruck des
im Bewusstsein gegebenen Zusammenhangs der psychischen
Vorgänge, die Functionstheilung der verschiedenen Rin-
dengebiete als das physiologische Correlat der mannig-
fachen Verschiedenheiten der einzelnen Bewusstseinsvorgänge

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0255" n="239"/>
          <fw place="top" type="header">§ 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit.</fw><lb/>
          <p>Das Bewusstsein in dieser Bedeutung eines umfassen-<lb/>
deren Zusammenhangs der gleichzeitigen und der in der<lb/>
Zeit sich folgenden psychischen Vorgänge tritt uns in der<lb/>
Erfahrung zunächst in den psychischen Lebensäußerungen<lb/>
des <hi rendition="#g">Individuums</hi> entgegen, als <hi rendition="#g">individuelles Bewusst-<lb/>
sein</hi>. Da aber ein analoger Zusammenhang auch bei Ver-<lb/>
bindungen von Individuen, wenngleich beschränkt auf ge-<lb/>
gewisse Seiten des psychischen Lebens, vorkommen kann,<lb/>
so können die Begriffe eines <hi rendition="#g">Gesammtbewusstseins</hi>,<lb/>
eines <hi rendition="#g">Volksbewusstseins</hi> u. dergl. dem nämlichen Allge-<lb/>
meinbegriffe untergeordnet werden. Für alle diese weiteren<lb/>
Bewusstseinsformen bildet jedoch das individuelle Bewusst-<lb/>
sein, auf dessen Betrachtung wir uns hier zunächst be-<lb/>
schränken werden, die Grundlage. (Ueber den Begriff des<lb/>
Gesammtbewusstseins vgl. unten § 21, 14.)</p><lb/>
          <p>2. Das individuelle Bewusstsein steht nun unter den-<lb/>
selben äußeren Bedingungen wie der Thatbestand des psychi-<lb/>
schen Geschehens überhaupt, für den es nur ein anderer,<lb/>
speciell die wechselseitigen Beziehungen der Bestandtheile<lb/>
desselben hervorhebender Ausdruck ist. Als Träger der<lb/>
Symptome eines individuellen Bewusstseins ist uns überall<lb/>
ein individueller thierischer Organismus gegeben, und in<lb/>
diesem erscheint wieder bei dem Menschen und den ihm<lb/>
ähnlichen höheren Thieren, die Rinde des Großhirns, in<lb/>
deren Zellen- und Fasernetzen die sämmtlichen zu den psy-<lb/>
chischen Vorgängen in Beziehung stehenden Organe ver-<lb/>
treten sind, als das nächste Organ des Bewusstseins. Den<lb/>
durchgängigen Zusammenhang der Rindenelemente des Ge-<lb/>
hirns können wir als den physiologischen Ausdruck des<lb/>
im Bewusstsein gegebenen Zusammenhangs der psychischen<lb/>
Vorgänge, die Functionstheilung der verschiedenen Rin-<lb/>
dengebiete als das physiologische Correlat der mannig-<lb/>
fachen Verschiedenheiten der einzelnen Bewusstseinsvorgänge<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[239/0255] § 15. Bewusstsein und Aufmerksamkeit. Das Bewusstsein in dieser Bedeutung eines umfassen- deren Zusammenhangs der gleichzeitigen und der in der Zeit sich folgenden psychischen Vorgänge tritt uns in der Erfahrung zunächst in den psychischen Lebensäußerungen des Individuums entgegen, als individuelles Bewusst- sein. Da aber ein analoger Zusammenhang auch bei Ver- bindungen von Individuen, wenngleich beschränkt auf ge- gewisse Seiten des psychischen Lebens, vorkommen kann, so können die Begriffe eines Gesammtbewusstseins, eines Volksbewusstseins u. dergl. dem nämlichen Allge- meinbegriffe untergeordnet werden. Für alle diese weiteren Bewusstseinsformen bildet jedoch das individuelle Bewusst- sein, auf dessen Betrachtung wir uns hier zunächst be- schränken werden, die Grundlage. (Ueber den Begriff des Gesammtbewusstseins vgl. unten § 21, 14.) 2. Das individuelle Bewusstsein steht nun unter den- selben äußeren Bedingungen wie der Thatbestand des psychi- schen Geschehens überhaupt, für den es nur ein anderer, speciell die wechselseitigen Beziehungen der Bestandtheile desselben hervorhebender Ausdruck ist. Als Träger der Symptome eines individuellen Bewusstseins ist uns überall ein individueller thierischer Organismus gegeben, und in diesem erscheint wieder bei dem Menschen und den ihm ähnlichen höheren Thieren, die Rinde des Großhirns, in deren Zellen- und Fasernetzen die sämmtlichen zu den psy- chischen Vorgängen in Beziehung stehenden Organe ver- treten sind, als das nächste Organ des Bewusstseins. Den durchgängigen Zusammenhang der Rindenelemente des Ge- hirns können wir als den physiologischen Ausdruck des im Bewusstsein gegebenen Zusammenhangs der psychischen Vorgänge, die Functionstheilung der verschiedenen Rin- dengebiete als das physiologische Correlat der mannig- fachen Verschiedenheiten der einzelnen Bewusstseinsvorgänge

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/255
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 239. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/255>, abgerufen am 25.11.2024.