Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung.
Bestätigung in der Betrachtungsweise der sämmtlichen
Geisteswissenschaften, denen die Psychologie als Grund-
lage dient. Alle diese Wissenschaften, Philologie, Geschichte,
Staats- und Gesellschaftslehre, haben zu ihrem Inhalt die
unmittelbare Erfahrung, wie sie durch die Wechselwirkung
der Objecte mit erkennenden und handelnden Subjecten be-
stimmt wird. Alle Geisteswissenschaften bedienen sich daher
nicht der Abstractionen und der hypothetischen Hülfsbegriffe
der Naturwissenschaft, sondern die Vorstellungsobjecte und
die sie begleitenden subjectiven Regungen gelten ihnen als
unmittelbare Wirklichkeit, und sie suchen die einzelnen Be-
standtheile dieser Wirklichkeit aus ihrem wechselseitigen
Zusammenhang zu erklären. Dies Verfahren der psycho-
logischen Interpretation in den einzelnen Geisteswissen-
schaften muss demnach auch das Verfahren der Psychologie
selbst sein, wie es durch ihren Gegenstand, die unmittel-
bare Wirklichkeit der Erfahrung, gefordert wird.

3a. Da die Naturwissenschaft den Inhalt der Erfahrung
unter Abstraction von dem erfahrenden Subjecte erforscht, so
pflegt man ihr auch die "Erkenntniss der Außenwelt" als ihre
Aufgabe zuzuweisen, wobei unter Außenwelt die Gesammtheit
der uns in der Erfahrung gegebenen Objecte verstanden wird.
Dem entsprechend hat man dann zuweilen die Aufgabe der
Psychologie als die "Selbsterkenntniss des Subjectes" definirt.
Diese Begriffsbestimmung ist jedoch deshalb ungenügend, weil
neben den Eigenschaften des einzelnen Subjectes auch die Wechsel-
wirkungen desselben mit der Außenwelt und mit andern ähnlichen
Subjecten zur Aufgabe der Psychologie gehören. Ueberdies kann
jener Ausdruck leicht so gedeutet werden, als wenn Außenwelt
und Subject getrennte Bestandtheile der Erfahrung wären oder min-
destens in von einander unabhängige Erfahrungsinhalte gesondert
werden könnten, während doch die äußere Erfahrung stets an die
Auffassungs- und Erkenntnissfunctionen des Subjectes gebunden
bleibt und die innere Erfahrung die Vorstellungen von der Außen-
welt als einen unveräußerlichen Bestandtheil enthält. Dieses Ver-

Einleitung.
Bestätigung in der Betrachtungsweise der sämmtlichen
Geisteswissenschaften, denen die Psychologie als Grund-
lage dient. Alle diese Wissenschaften, Philologie, Geschichte,
Staats- und Gesellschaftslehre, haben zu ihrem Inhalt die
unmittelbare Erfahrung, wie sie durch die Wechselwirkung
der Objecte mit erkennenden und handelnden Subjecten be-
stimmt wird. Alle Geisteswissenschaften bedienen sich daher
nicht der Abstractionen und der hypothetischen Hülfsbegriffe
der Naturwissenschaft, sondern die Vorstellungsobjecte und
die sie begleitenden subjectiven Regungen gelten ihnen als
unmittelbare Wirklichkeit, und sie suchen die einzelnen Be-
standtheile dieser Wirklichkeit aus ihrem wechselseitigen
Zusammenhang zu erklären. Dies Verfahren der psycho-
logischen Interpretation in den einzelnen Geisteswissen-
schaften muss demnach auch das Verfahren der Psychologie
selbst sein, wie es durch ihren Gegenstand, die unmittel-
bare Wirklichkeit der Erfahrung, gefordert wird.

3a. Da die Naturwissenschaft den Inhalt der Erfahrung
unter Abstraction von dem erfahrenden Subjecte erforscht, so
pflegt man ihr auch die »Erkenntniss der Außenwelt« als ihre
Aufgabe zuzuweisen, wobei unter Außenwelt die Gesammtheit
der uns in der Erfahrung gegebenen Objecte verstanden wird.
Dem entsprechend hat man dann zuweilen die Aufgabe der
Psychologie als die »Selbsterkenntniss des Subjectes« definirt.
Diese Begriffsbestimmung ist jedoch deshalb ungenügend, weil
neben den Eigenschaften des einzelnen Subjectes auch die Wechsel-
wirkungen desselben mit der Außenwelt und mit andern ähnlichen
Subjecten zur Aufgabe der Psychologie gehören. Ueberdies kann
jener Ausdruck leicht so gedeutet werden, als wenn Außenwelt
und Subject getrennte Bestandtheile der Erfahrung wären oder min-
destens in von einander unabhängige Erfahrungsinhalte gesondert
werden könnten, während doch die äußere Erfahrung stets an die
Auffassungs- und Erkenntnissfunctionen des Subjectes gebunden
bleibt und die innere Erfahrung die Vorstellungen von der Außen-
welt als einen unveräußerlichen Bestandtheil enthält. Dieses Ver-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0020" n="4"/><fw place="top" type="header">Einleitung.</fw><lb/>
Bestätigung in der Betrachtungsweise der sämmtlichen<lb/><hi rendition="#g">Geisteswissenschaften</hi>, denen die Psychologie als Grund-<lb/>
lage dient. Alle diese Wissenschaften, Philologie, Geschichte,<lb/>
Staats- und Gesellschaftslehre, haben zu ihrem Inhalt die<lb/>
unmittelbare Erfahrung, wie sie durch die Wechselwirkung<lb/>
der Objecte mit erkennenden und handelnden Subjecten be-<lb/>
stimmt wird. Alle Geisteswissenschaften bedienen sich daher<lb/>
nicht der Abstractionen und der hypothetischen Hülfsbegriffe<lb/>
der Naturwissenschaft, sondern die Vorstellungsobjecte und<lb/>
die sie begleitenden subjectiven Regungen gelten ihnen als<lb/>
unmittelbare Wirklichkeit, und sie suchen die einzelnen Be-<lb/>
standtheile dieser Wirklichkeit aus ihrem wechselseitigen<lb/>
Zusammenhang zu erklären. Dies Verfahren der psycho-<lb/>
logischen Interpretation in den einzelnen Geisteswissen-<lb/>
schaften muss demnach auch das Verfahren der Psychologie<lb/>
selbst sein, wie es durch ihren Gegenstand, die unmittel-<lb/>
bare Wirklichkeit der Erfahrung, gefordert wird.</p><lb/>
          <p>3a. Da die Naturwissenschaft den Inhalt der Erfahrung<lb/>
unter Abstraction von dem erfahrenden Subjecte erforscht, so<lb/>
pflegt man ihr auch die »Erkenntniss der Außenwelt« als ihre<lb/>
Aufgabe zuzuweisen, wobei unter Außenwelt die Gesammtheit<lb/>
der uns in der Erfahrung gegebenen Objecte verstanden wird.<lb/>
Dem entsprechend hat man dann zuweilen die Aufgabe der<lb/>
Psychologie als die »Selbsterkenntniss des Subjectes« definirt.<lb/>
Diese Begriffsbestimmung ist jedoch deshalb ungenügend, weil<lb/>
neben den Eigenschaften des einzelnen Subjectes auch die Wechsel-<lb/>
wirkungen desselben mit der Außenwelt und mit andern ähnlichen<lb/>
Subjecten zur Aufgabe der Psychologie gehören. Ueberdies kann<lb/>
jener Ausdruck leicht so gedeutet werden, als wenn Außenwelt<lb/>
und Subject getrennte Bestandtheile der Erfahrung wären oder min-<lb/>
destens in von einander unabhängige Erfahrungsinhalte gesondert<lb/>
werden könnten, während doch die äußere Erfahrung stets an die<lb/>
Auffassungs- und Erkenntnissfunctionen des Subjectes gebunden<lb/>
bleibt und die innere Erfahrung die Vorstellungen von der Außen-<lb/>
welt als einen unveräußerlichen Bestandtheil enthält. Dieses Ver-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0020] Einleitung. Bestätigung in der Betrachtungsweise der sämmtlichen Geisteswissenschaften, denen die Psychologie als Grund- lage dient. Alle diese Wissenschaften, Philologie, Geschichte, Staats- und Gesellschaftslehre, haben zu ihrem Inhalt die unmittelbare Erfahrung, wie sie durch die Wechselwirkung der Objecte mit erkennenden und handelnden Subjecten be- stimmt wird. Alle Geisteswissenschaften bedienen sich daher nicht der Abstractionen und der hypothetischen Hülfsbegriffe der Naturwissenschaft, sondern die Vorstellungsobjecte und die sie begleitenden subjectiven Regungen gelten ihnen als unmittelbare Wirklichkeit, und sie suchen die einzelnen Be- standtheile dieser Wirklichkeit aus ihrem wechselseitigen Zusammenhang zu erklären. Dies Verfahren der psycho- logischen Interpretation in den einzelnen Geisteswissen- schaften muss demnach auch das Verfahren der Psychologie selbst sein, wie es durch ihren Gegenstand, die unmittel- bare Wirklichkeit der Erfahrung, gefordert wird. 3a. Da die Naturwissenschaft den Inhalt der Erfahrung unter Abstraction von dem erfahrenden Subjecte erforscht, so pflegt man ihr auch die »Erkenntniss der Außenwelt« als ihre Aufgabe zuzuweisen, wobei unter Außenwelt die Gesammtheit der uns in der Erfahrung gegebenen Objecte verstanden wird. Dem entsprechend hat man dann zuweilen die Aufgabe der Psychologie als die »Selbsterkenntniss des Subjectes« definirt. Diese Begriffsbestimmung ist jedoch deshalb ungenügend, weil neben den Eigenschaften des einzelnen Subjectes auch die Wechsel- wirkungen desselben mit der Außenwelt und mit andern ähnlichen Subjecten zur Aufgabe der Psychologie gehören. Ueberdies kann jener Ausdruck leicht so gedeutet werden, als wenn Außenwelt und Subject getrennte Bestandtheile der Erfahrung wären oder min- destens in von einander unabhängige Erfahrungsinhalte gesondert werden könnten, während doch die äußere Erfahrung stets an die Auffassungs- und Erkenntnissfunctionen des Subjectes gebunden bleibt und die innere Erfahrung die Vorstellungen von der Außen- welt als einen unveräußerlichen Bestandtheil enthält. Dieses Ver-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/20
Zitationshilfe: Wundt, Wilhelm: Grundriss der Psychologie. Leipzig, 1896, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/wundt_grundriss_1896/20>, abgerufen am 21.11.2024.